Anne - 03 - Anne - 03 - Anne, der beste Lebenskamerad
klopfte er ab und kam zu uns herunter. Und im nächsten Augenblick stand ich auf dem Pult, und mir wurde befohlen, den ersten Satz der Jupitersymphonie zu dirigieren.“
„Ja, aber.“
„Doch, doch, ich hatte ihm gesagt, die hätte ich auf eigene Faust studiert, und bei der waren sie gerade, als wir kamen - und vor mir lag auch die Partitur, und das Herz schlug mir bis in den Hals hinauf, aber es blieb mir ja nichts weiter übrig, als mich kopfüber hineinzustürzen.“
„Und dann?“
„Und dann? Anne - ich kann es gar nicht beschreiben. Den Taktstock zu heben - und vom ganzen Orchester Antwort zu erhalten - mit Hilfe eines - Holzstocks zu spielen - und mit den Fingern der Linken die Instrumentengruppen hervorzulocken - eine kleine Bewegung mit der Hand zu machen und zu spüren, wie das Orchester sie versteht - das zu hören, was bisher nur im Kopf oder im Herzen getönt hatte - zu hören, wie es tönte, wie es von einem großen Orchester aufbrauste.“ Mit einemmal bebte Jess’ Stimme. „Ich kann es nicht beschreiben, Anne - es war so wunderbar, daß -daß - ich glaube fast, ich brauche deinen Staublappen, um mir die Tränen damit abzuwischen!“
Noch nie hatte Anne es erlebt, daß Jess’ Stimme so gerührt war. Er hatte aufgehört zu rudern, er saß über die Ruder vorgeneigt, und der kleine Kahn trieb über den blanken, jetzt blauschwarzen See dahin.
„Und dann, Jess?“ Anne hatte ihre Stimme gedämpft.
„Dann - dann sagte er - ich hätte viel zu lernen, aber die Anlagen seien vorhanden - ich sei durch und durch musikalisch - ich - ich dürfte im August bei ihm anfangen.“ Jetzt sank Jess’ Stimme, und Anne hörte, wie hoffnungslos sie klang.
Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf die seine.
„Hör zu, mein Junge. Weißt du noch, daß ich immer sagte: ,Ich bin es, meine Kenntnisse sind es, die in unserer Ehe die Reserve bilden sollen.’ Du sollst spielen, du sollst lernen, du sollst dirigieren, du sollst dich ganz der Musik widmen. Unser Geld reicht für dich allein, Jess! Du gehst nach Paris, hast du verstanden? Du verwendest das Geld für dich und nicht für Essen und Kleidung und Autobusfahrten für mich. Und wer weiß, wenn du erst in Paris bist, dann kann es doch sein, daß du Klavierschüler bekommst - meinst du nicht? Und deine Kompositionen werden doch recht gut verkauft - vielleicht kannst du Grammofonplatten bespielen - man kann nie wissen. Oder du bekommst Begleitaufträge. Du begleitest Sänger und Violinisten! O Jess, es wird schon gehen - du schaffst es ganz bestimmt!“
„Und was wird aus dir, Annekind?“
„Ich gehe nach Dänemark zurück oder vielleicht auch nach Norwegen. Ich glaube, besser nach Norwegen - du weißt, dort kann ich jederzeit eine gute Stellung bekommen, ich habe doch mein Examen in der Handelsschule mit ,sehr gut’ bestanden, nicht wahr -ich kann mich selber durchbringen, das habe ich doch bewiesen.“
„Ja, das hast du, weiß Gott, bewiesen!“ Sie schwiegen ein Weilchen. Jess tauchte die Ruder wieder ins Wasser. Silbern schimmernde Tropfen vom Mondsee rollten an den blanken Ruderschaufeln hinab.
„Aber Anne, begreifst du nicht, daß es für mich demütigend ist -ich habe dich dazu überredet, mich zu heiraten, wir wollten ins Ausland gehen und ein schönes Jahr miteinander verleben, bevor wir uns zu Hause niederließen - und nun soll ich dich nach zwei Monaten schon wegschicken - bitte, Anne, fahr nach Hause und rackere dich in einem Büro ab, und spare Geld für unsere Wohnung zusammen, ich kann dir leider nicht helfen, ich muß nach Paris gehen und spielen. Verstehst du nicht, daß das unmöglich ist?“
„Verstehst du denn nicht, daß es für mich unmöglich ist, hier zu bleiben? Verstehst du nicht, daß dir die Chance deines Lebens geboten worden ist, und daß du mir ein guter Kamerad sein mußt? Kameradschaft bedeutet nicht nur zu geben, Jess. Es bedeutet auch zu empfangen, wenn die Situation es erfordert und notwendig macht. Ich würde deinen Eltern oder dir oder mir selbst nie wieder ins Gesicht sehen können, wenn ich dir in dieser Sache hier im Wege stehen würde - in einer Sache, die für dich die ganze Zukunft (bedeuten kann. Unsere ganze Zukunft, Jess! Die Zukunft für dich und für mich und die Kinder, die wir einmal haben werden. Du hast kein Recht, mich daran zu hindern, dir diese kleine Hilfe zukommen zu lassen. Und ,Hilfe’ - was ist das eigentlich für dummes Zeug! Ich soll mich ja nur ein Weilchen länger selbst
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