Anne - 03 - Anne - 03 - Anne, der beste Lebenskamerad
Frohe Tage in Salzburg
Anne saß da und starrte trübsinnig auf ihren Teller, auf dem ein trockenes Stück Brot lag. Oder, genauer gesagt, eine kleine, runde, trockene Semmel, die halb durchgeschnitten war. Neben dem Teller stand eine Tasse mit einer Flüssigkeit, die wie ungewöhnlich dünner Wasserkakao aussah.
Anne hatte Kaffee bestellt. Sie kostete das Getränk und schnitt ein Gesicht. Die hellbraune Farbe rührte von Kaffee her, der mit sehr viel heißer Milch gemischt war.
Ihre Miene wurde noch trübsinniger, und als sie sich gerade in Gedanken ein paar Sätze zurechtlegte, die dem Kellner begreiflich machen sollten, was sie eigentlich wünschte, tat sich die Tür auf, und Jess kam herein. „Was ist denn das für ein üppiges Mahl?“ lachte er, als er das kümmerliche Gedeck zu Gesicht bekam. „Hast du eine Abmagerungskur vor, oder willst du Sparmaßnahmen ergreifen?“ Anne sah unglücklich in sein vergnügtes Gesicht - unglücklich und dennoch erleichtert, weil er gekommen war.
„Ich habe Kaffee und ein Rundstück bestellt - Kaffee und Brötchen, habe ich gesagt - ist das nicht richtig?“
„Doch, doch - das heißt, hier sagt man Semmeln, aber das spielt keine Rolle. Du mußt aber wissen, hier in Österreich bekommst du Butter und Aufschnitt nur, wenn du es ausdrücklich bestellst. Brot bedeutet Brot und weiter nichts!“
Anne lachte, und Jess lachte, und schließlich lachte auch der Kellner. Und dann bekam Anne Butter und Marmelade und eine Tasse starken, schwarzen Kaffee mit einem Kännchen Sahne dazu.
„Du mußt immer schwarzen Kaffee oder Mokka bestellen, sonst bekommst du unweigerlich dies labbrige Zeug da“, erklärte Jess.
„Uh, was muß man nicht alles Komisches lernen“, seufzte Anne. „Wer sollte glauben, daß ich beim Abitur in Deutsch ,sehr gut’ hatte?“
„Nein, da siehst du’s, es nützt einem verdammt wenig, daß man Schillers Gedichte aufsagen kann oder ,die Angst, die Axt, die Bank, die Braut’, wenn man nach Salzburg kommt und Kaffee trinken möchte!“ meinte Jess in belehrendem Ton.
„Mach nicht immer auf meine Kosten dumme Witze und erzähle mir lieber, ob du die Eintrittskarten bekommen hast“, rief Anne.
„Und ob ich sie bekommen habe! Ich brauchte nur diese Bescheinigung vorzuzeigen. Du scheinst noch immer nicht zu wissen, daß du mit einem äußerst vielversprechenden jungen Musiker verheiratet bist, der mit Empfehlungsschreiben und Bescheinigungen und Einführungsschreiben und wie das alles heißt, gespickt ist. Schau her - hier sind die Karten für die Eröffnung mit Jedermann’ - hier für ,Cosi fan tutte’ - hier für das Beethovenkonzert im Mozarteum und hier für das große Orchesterkonzert in der Reitschule.“
Anne blickte andachtsvoll auf den ganzen Fächer von Papierstreifen, den Jess ihr unter die Nase hielt. Es war kaum zu fassen, ja ganz unwahrscheinlich! Vor knapp einem halben Jahr war sie daheim in der Möwenbucht zwischen Wohnhaus und Stall hin-und hergegangen, hatte Kühe gemolken und Schweine gefüttert, den Stall ausgemistet, die kleinen Lämmerchen entgegengenommen - die ganze Außenarbeit lag auf ihren Schultern, während der Bruder auf der Landwirtschaftsschule war. An einem sonnigen Maientag hatten sie und Jess geheiratet - Jess, ihre erste, ihre große und einzige Liebe, der im Gymnasium in dieselbe Klasse ging wie sie, in jener Zeit, als sie noch vormittags Schulmädchen war und nachmittags Hausangestellte - Jess, der die Sonne und das Leben und die Heiterkeit in ihr Dasein hineingetragen hatte.
Gleich nach der Hochzeit waren sie nach Kopenhagen gefahren und hatten eine Woche bei Jess’ Eltern gewohnt. Eine eigene Wohnung hatten sie noch nicht, denn sie wollten die ersten acht bis zehn Monate im Ausland verbringen. Für den Frühling war ihnen in einem Neubau eine Wohnung zugesagt worden, und so lange würde das Geld reichen, das sie zur Verfügung hatten. Jess hatte sein Stipendium, und dann hatten sie noch eine kleine Geldsumme im Hinterhalt. Jess hatte im letzten Jahr fleißig gespart und seine Kompositions- und Unterrichtshonorare auf die hohe Kante gelegt. Er hatte keine Schwierigkeiten, Klavierschüler zu bekommen. Wer nahm nicht liebend gern bei Jess Daell Unterricht, der erstens der Sohn des bekannten ersten Konzertmeisters war, und der zweitens bei seinem Erstlingskonzert einen so brausenden Erfolg gehabt hatte?
Dann kam der unsagbar schöne Tag, als sie die Reise gen Süden antraten. Gen Süden, durch Deutschlands
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