Anne auf Green Gables
College. Das >Große Lehrerexamen< in nur einem Jahr und dann noch das Avery-Stipendium! Mrs Lynde sagt zwar immer, Hochmut käme vor dem Fall und von der höheren Bildung für Frauen hielte sie überhaupt nichts, weil es die Frauen nur von ihren natürlichen Aufgaben abhalten würde - aber davon glaube ich kein einziges Wort. Da wir gerade von Rachel sprechen . .. mir fällt da noch etwas anderes sein: Hast du in letzter Zeit etwas über die Abbey-Bank gehört, Anne?«
»Ja, ich habe gelesen, dass sie ins Wackeln gekommen ist«, antwortete Anne. »Warum fragst du?«
»Genau das hat mir Rachel auch neulich erzählt. Sie war letzte Woche dort und hat Besorgnis erregende Dinge gehört. Matthew macht sich große Sorgen. Alle unsere Ersparnisse liegen seit geraumer Zeit auf dieser Bank - bis auf den letzten Pfennig. Ich wollte ja damals zu einer Sparkasse gehen, aber Matthew meint, Mr Abbey sei ein guter Freund unseres Vaters gewesen und er hätte immer alle seine Geschäfte mit ihm abgewickelt. Einer Bank mit Mr Abbey an der Spitze könne jeder vertrauen.«
»Ich glaube, er ist seit vielen Jahren nur noch auf dem Papier Besitzer der Bank«, sagte Anne. »Er ist schon sehr alt, seine Neffen haben längst die Geschäfte übernommen.«
»Als Rachel uns von den Gerüchten erzählt hat, wollte ich, dass wir gleich unser Geld abheben. Aber gestern hat Mr Russell zu Matthew gesagt, die Bank wäre doch nicht in Gefahr.«
Wie sie sich vorgenommen hatte, verbrachte Anne den ganzen Tag draußen im Freien. Es war ein sonniger, klarer Tag, voller Blüten und Frühlingsdüfte. Anne stattete dem Obstgarten, dem »Nymphenteich«, »Willowmere« und dem »Veilchental« einen Besuch ab und schaute dann im Pfarrhaus vorbei, um sich eine Weile mit Mrs Allan zu unterhalten. Am Abend ging sie mit Matthew durch die »Liebeslaube« zur Weide hinunter, um die Kühe zu holen. Die Wälder glühten im Licht der untergehenden Sonne und ein warmer Wind strich über die Felder und Wiesen. Matthew ging sehr langsam, sein Rücken war tief gebeugt.
»Du hast heute wieder viel zu hart gearbeitet, Matthew«, sagte sie vorwurfsvoll. »Warum gehst du die Dinge nicht ein wenig lockerer an?«
»Hm . . . irgendwie kann ich das nicht«, antwortete Matthew nachdenklich, während er das Tor zur Kuhweide langsam öffnete. »Ich werde eben alt, Anne - bloß, ich vergesse es immer wieder. Ich habe mein ganzes Leben hart gearbeitet und wahrscheinlich werde ich auch eines Tages bei meiner Arbeit sterben.«
»Wenn ich der Junge gewesen wäre, nach dem ihr Mrs Spencer damals nach Nova Scotia geschickt habt«, sagte Anne wehmütig, »dann hätte ich dir bei der Arbeit unter die Arme greifen können.«
»Ach, Anne! Du bist mir lieber als ein ganzes Dutzend Jungen zusammen«, sagte Matthew und nahm Anne bei der Hand. »Merk dir das gut: lieber als ein ganzes Dutzend Jungen zusammen. Und außerdem: War es etwa ein Junge, der das Avery-Stipendium gewonnen hat? Nein! Es war ein Mädchen -mein Mädchen, auf das ich sehr stolz bin!«
Voller Liebe lächelte er sie an.
Anne nahm die Erinnerung an dieses Lächeln mit, als sie am Abend in ihr Zimmer ging, um noch lange am offenen Fenster zu sitzen, an die Vergangenheit zu denken und von der Zukunft zu träumen. Draußen schimmerte weiß die »Schneekönigin« im Mondschein, vom Sumpf jenseits von Orchard Slope war der Gesang der Frösche zu hören. Anne sollte sich an die silberne, friedliche Schönheit dieser Nacht noch ihr ganzes Leben lang erinnern. Es war die letzte Nacht, bevor der Tod in ihr Leben trat.
33 - Schnitter Tod
»Matthew! Matthew! Was ist los mit dir? Matthew, fühlst du dich nicht wohl?«
Manilas Stimme klang zutiefst besorgt. Anne kam schnell durch den Flur herbeigelaufen. In ihren Armen hielt sie einen großen Strauß weißer Narzissen - es sollte sehr lange dauern, bis sie den Anblick und den Geruch weißer Narzissen wieder ertragen konnte.
Matthew stand vor der Tür auf der Veranda, ein zusammengefaltetes Stück Papier in der Hand. Sein Gesicht sah seltsam verzerrt und aschfahl aus. Anne ließ ihre Blumen fallen und lief zu ihm. Doch bevor sie und Manila ihn noch auffangen konnten, war Matthew über die Schwelle gefallen.
»Er ist bewusstlos«, keuchte Manila. »Anne, hol Martin - schnell! Er ist in der Scheune.«
Martin, der gerade von der Post nach Hause gekommen war, drehte auf der Stelle um und fuhr den Doktor holen. Auf Orchard Slope machte er kurz Halt und schickte Mr und Mrs Barry und
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