Anne auf Green Gables
fragte Matthew seine Schwester leise.
»Es ist nicht das erste Mal, das ich darüber froh bin«, versetzte Marilla. »Du willst mir das wohl wieder einmal aufs Butterbrot schmieren, Matthew Cuthbert!«
Miss Barry, die eine Reihe hinter ihnen saß, lehnte sich nach vorne und piekte Marilla mit ihrem Sonnenschirm in den Rücken. »Sind Sie auch so stolz auf die kleine Anne wie ich?«, fragte sie.
An jenem Abend fuhr Anne mit Matthew und Marilla nach Avonlea. Seit April war sie nicht mehr zu Hause gewesen und sie hatte das Gefühl, sie könnte auch nicht einen Tag länger warten. Diana begrüßte sie am Tor von Green Gables. Zusammen gingen sie in Annes Zimmer, wo Marilla eine blühende Zimmerrose auf die Fensterbank gestellt hatte. Anne sah sich glücklich um und ließ einen Seufzer hören. »Oh, Diana, es ist so schön, wieder hier zu sein, den Obstgarten und die gute, alte >Schneekönigin< zu sehen - und vor allem dich, Diana!«
»Ich dachte schon, du hättest deine Freundinnen in der Stadt lieber als mich«, sagte Diana vorwurfsvoll. »Josie Pye hat mir erzählt, wie viele Freundinnen du hast. Sie meinte, du seist ganz vernarrt in sie.«
»Ach, Diana«, lachte Anne, »du bist und bleibst meine einzige Busenfreundin, das weißt du doch! Ich habe dir so viel zu erzählen. Aber jetzt möchte ich am liebsten nur hier sitzen und dich anschauen. Ich bin müde, glaube ich - müde von der Arbeit und all der Aufregung. Morgen werde ich zwei geschlagene Stunden damit verbringen, unten im Obstgarten im Gras zu liegen und an gar nichts zu denken.«
»Du hast die Prüfungen glänzend bestanden, Anne. Aber jetzt, wo du das Avery-Stipendium gewonnen hast, wirst du doch sicherlich nicht als Lehrerin an die Schule gehen, oder?«
»Nein, ich gehe im September auf das Redmond College. Ist das nicht wunderbar? Nach drei langen, goldenen Monaten hier werde ich wahrscheinlich auch wieder genug Kräfte gesammelt haben, um mich auf das Studium zu freuen. Jane und Ruby wollen gleich eine Stelle als Lehrerin annehmen. Ist das nicht herrlich, dass wir es alle geschafft haben, sogar Moody Spurgeon und Josie Pye?«
»Jane hat schon die Schule in Newbridge angeboten bekommen«, erzählte Diana. »Gilbert Blythe wird ebenfalls unterrichten. Sein Vater kann es sich nicht leisten, ihn im nächsten Jahr weiterstudieren zu lassen, Gilbert muss jetzt selbst Geld verdienen. Wahrscheinlich wird er die Schule in Avonlea bekommen, wenn Miss Anne tatsächlich nach Redmond geht.«
Überrascht stellte Anne fest, dass diese Neuigkeit sie enttäuschte. Sie hatte erwartet, Gilbert würde ebenso wie sie im Herbst in Redmond weiterstudieren. Was sollte sie ohne ihren alten Rivalen dort anfangen? Würde das Lernen ihr dann überhaupt noch Spaß machen?
Am nächsten Morgen beim Frühstück fiel Anne auf, dass Matthew gar nicht gut aussah. Er wirkte viel blasser und schwächer als früher. »Marilla«, fragte sie zögernd, als Matthew hinaus aufs Feld gegangen war, »ist Matthew nicht gesund?«
»Nein«, antwortete Marilla besorgt. »Sein Herz hat ihm das ganze Frühjahr über mächtig zu schaffen gemacht, aber er will sich nicht schonen. Ich mache mir große Sorgen um ihn. Seitdem wir Martin eingestellt haben, geht es allerdings schon ein wenig besser. Er ist ein guter Arbeiter und kann Matthew vieles abnehmen. Ich hoffe, Matthew erholt sich wieder. Es wird ihm bestimmt gut tun, dass du da bist. Du schaffst es immer ihn aufzuheitern.«
Anne beugte sich über den Tisch und nahm Marillas Gesicht in beide Hände.
»Du siehst auch nicht so gut aus, wie ich mir das eigentlich wünsche, Marilla. Du wirkst erschöpft und überarbeitet. Jetzt, wo ich zu Hause bin, solltest du dich ein wenig ausruhen. Ich nehme mir nur noch heute frei, um alle meine alten Lieblingsplätze zu besuchen und auf den Spuren meiner alten Träume zu wandeln - dann bist du an der Reihe und darfst nach Herzenslust faulenzen. Ich werde deine Arbeit übernehmen.«
Marilla lächelte Anne liebevoll an. »Die Arbeit ist nicht Schuld, Anne, es ist mein Kopf. Ich habe jetzt immer öfter diese furchtbaren Schmerzen hinter den Augen. Doktor Spencer hat es mit neuen Brillengläsern versucht, aber das hat auch nicht geholfen.
Ende Juni kommt ein bekannter Augenspezialist auf die Insel und der Doktor meint, ich sollte mich unbedingt von ihm untersuchen lassen. Das muss ich wohl auch, denn inzwischen kann ich weder richtig nähen noch lesen. - Aber, Anne, du hast dich großartig geschlagen auf dem
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