Anne auf Green Gables
kleinen Hauses sehen konnte, das am anderen Ufer des >Sees der glitzernden Wasser< stand. Etwas weiter links konnte man hinter den großen Scheunen und den grünen, leicht abfallenden Feldern das Meer erkennen. Anne sog jede Einzelheit gierig ein. Völlig versunken in die Schönheit dieser Landschaft kniete sie am Fenster, als ihr plötzlich jemand eine Hand auf die Schulter legte. Es war Marilla, die unbemerkt ins Zimmer getreten war.
»Es wird Zeit, dass du dich anziehst«, sagte sie unwirsch.
Marilla wusste nicht recht, was sie mit dem Kind reden sollte, und dieses Unvermögen ließ sie barsch und unfreundlich erscheinen, auch wenn sie es nicht so meinte.
Anne stand auf und seufzte tief. »Oh, ist es nicht wunderbar?«, fragte sie und deutete mit der Hand hinaus.
»Ein stattlicher Baum«, bestätigte Marilla, »und er blüht reichlich. Bloß die Früchte sind nichts Besonderes - klein und voller Würmer.«
»Oh, ich meine nicht nur den Baum. Natürlich ist er schön, himmlisch schön - er blüht, als ginge es um sein Leben. Ich meine alles hier: den Garten und die Obstplantage und den Bach und die Bäume - die ganze große, liebe Welt. An einem solchen Morgen muss man die Welt einfach lieben, geht es Ihnen nicht auch so? Und ich kann den Bach hier oben plätschern hören. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie lustig Bäche sind? Sie kichern die ganze Zeit vor sich hin. Selbst im Winter kann man sie unter dem Eis hören. Ich bin so froh, dass es hier einen Bach gibt! Ich werde mich immer gerne daran erinnern, auch wenn ich Green Gables niemals wieder sehe. Heute Morgen bin ich nicht mehr mit der Welt zerfallen. Ist es nicht herrlich, dass es jeden Tag einen Morgen gibt? Traurig bin ich allerdings immer noch. Ich habe mir gerade vorgestellt, Sie wollten mich vielleicht doch behalten und ich könnte bis in alle Ewigkeit hier bleiben. Es war eine wunderschöne Vorstellung. Das Schlimme daran ist nur, dass man früher oder später doch in die Wirklichkeit zurück muss und das tut dann sehr weh.«
»Du solltest dich lieber anziehen und nach unten kommen, anstatt dich hier oben zu verträumen«, sagte Marilla, als sie endlich auch einmal zu Wort kam. »Das Frühstück ist schon fertig. Wasch dein Gesicht und kämme dir die Haare. Lass das Fenster offen und schlag die Bettdecke über das Fußende - und beeil dich!«
Anne konnte sich offensichtlich beeilen, wenn es darauf ankam, denn in zehn Minuten stand sie unten in der Küche.
»Ich habe einen Bärenhunger«, verkündete sie, als sie sich auf den Platz setzte, den Marilla für sie gedeckt hatte. »Ach, ich bin ja so froh, dass heute die Sonne scheint! Aber regnerische Morgen mag ich auch. Man weiß noch nicht, was den ganzen Tag über passieren wird, da hat man jede Menge Raum für Phantasie. Aber ich bin trotzdem froh, dass es nicht regnet. Wenn die Sonne scheint, ist es viel einfacher, fröhlich zu sein und den Aufgaben des Lebens standzuhalten. Es mag ja ganz schön sein, über das Leid anderer zu lesen und sich vorzustellen, wie man selbst alle Prüfungen heldenhaft bestehen würde, aber wenn sie sich einem dann plötzlich wirklich stellen, dann ist es nicht mehr so schön, nicht wahr?«
»Halt um Himmels willen jetzt mal deinen Mund«, fuhr Marilla sie an. »Für ein kleines Mädchen redest du entschieden zu viel.«
Daraufhin schwieg die Kleine so gehorsam und beharrlich, dass es Marilla nur noch nervöser machte. Gedankenverloren kaute Anne auf ihrem Brot herum, während ihre Augen mit leerem Blick aus dem Fenster in den Himmel starrten. Offenbar schwebte sie im Geiste in irgendwelchen unerreichbaren Welten, während ihr Körper leblos neben Marilla am Tisch saß.
Warum wollte Matthew sie bloß hier behalten?, fragte sich Marilla. Sie spürte, dass er noch der gleichen Meinung war wie am Abend zuvor - und dass er auch bei dieser Meinung bleiben würde. So war Matthew nun einmal. Er setzte sich irgendetwas in den Kopf und verfolgte die Sache dann mit stummer Beharrlichkeit, was zehnmal stärker und wirksamer war, als wenn er seine Meinung in lange Reden kleiden würde.
Als das Frühstück vorüber war, erwachte Anne aus ihren Tagträumen und fragte, ob sie das Geschirr spülen dürfe.
»Kannst du das denn auch?«, fragte Manila misstrauisch.
»Fast so gut wie auf kleine Kinder aufpassen. Darin habe ich am meisten Erfahrung. Wie schade, dass Sie keine Kinder haben, um die ich mich kümmern könnte.«
»Ich glaube nicht, dass ich hier noch mehr
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