Anne auf Green Gables
mit Mrs Spencer regeln. Mrs Spencer wird dann wohl entsprechende Maßnahmen ergreifen, um Anne nach Nova Scotia zurückzubringen. Ich werde dir dein Essen hinstellen und früh genug zurück sein, um die Kühe zu melken.« Matthew schwieg immer noch. Marilla hatte das Gefühl, gegen eine Wand geredet zu haben.
Erst als Marilla und Anne in den Wagen gestiegen waren, sagte Matthew langsam: »Der kleine Jerry Buote von der Bucht drüben war heute Morgen da. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn den Sommer über einstellen würde.«
Marilla gab keine Antwort, versetzte der unglücklichen Stute jedoch einen so heftigen Schlag mit der Peitsche, dass das behäbige Tier, das eine solche Behandlung nicht gewöhnt war, in einem beängstigenden Tempo den Hohlweg hinunterschoss. Als Marilla sich auf dem schaukelnden Wagen noch einmal umschaute, konnte sie sehen, wie Matthew am Tor lehnte und ihnen wehmütig nachblickte.
05 - Anne erzählt ihre Geschichte
»Wissen Sie«, sagte Anne vertraulich, »ich bin fest entschlossen, diese Fahrt zu genießen. Solange wir unterwegs sind, werde ich einfach nicht daran denken, dass ich zurück ins Waisenhaus muss. - Oh, schauen Sie nur, da blüht schon eine wilde Rose! Ist sie nicht sagenhaft schön? Es muss wunderbar sein, eine Rose zu sein, glauben Sie nicht auch? Und wäre es nicht noch schöner, wenn die Rosen sprechen könnten? Bestimmt könnten sie uns die herrlichsten Dinge erzählen. Rosa ist außerdem meine Lieblingsfarbe. Ein Jammer, dass ich kein Rosa tragen kann! Aber zu meinen roten Haaren passt es einfach nicht - noch nicht einmal in der Phantasie. Haben Sie schon mal ein Mädchen gekannt, das in seiner Jugend rote Haare hatte und später eine andere Haarfarbe bekam?«
»Nein, so etwas habe ich noch nie gehört«, entgegnete Marilla gnadenlos, »und ich glaube auch nicht, dass es in deinem Fall so eintreten wird.«
Anne seufzte. »Eine weitere Hoffnung dahin! Mein Leben ist ein Friedhof voller begrabener Hoffnungen. Diesen Satz habe ich einmal in einem Buch gelesen und seitdem rufe ich ihn mir immer ins Gedächtnis, wenn ich sehr enttäuscht bin und mich trösten will.«
»Ich verstehe allerdings nicht, worin da der Trost liegen soll.« Marilla schüttelte den Kopf.
»Na, es klingt eben so schön, so romantisch, als wäre ich eine Heldin aus irgendeinem Buch, verstehen Sie. Ich liebe alles, was romantisch ist, und >ein Friedhof voller begrabener Hoffnungen ist so ungefähr das Romantischste, was man sich vorstellen kann, finden Sie nicht? Das macht mich dann froh. Fahren wir heute wieder über den >See der glitzernden Wasser«
»Über Barrys Weiher fahren wir nicht, falls du den meinst. Wir nehmen die Uferstraße.«
»Die Uferstraße! Das hört sich schön an«, sagte Anne verträumt. »Ist sie so schön wie ihr Name? Als Sie >Uferstraße< sagten, kam mir sofort ein Bild in den Kopf. Und White Sands ist auch ein hübscher Name, obwohl er mir längst nicht so gut gefällt wie Avonlea. A-von-lea - das klingt wie Musik. Wie weit ist es bis White Sands?«
»Fünf Meilen, und da du offensichtlich sowieso die ganze Zeit über reden willst, können wir die Zeit genauso gut für ein nützliches Gespräch verwenden. Erzähl mir was von dir.«
»Von mir gibt’s nicht viel zu erzählen, Miss Cuthbert. Wenn ich Ihnen erzählen dürfte, was ich mir alles über mich vorstelle, wäre das viel interessanter.«
»Nein, nein! Davon will ich nichts hören. Bleib bei der Wahrheit und fang ganz von vorne an. Wo wurdest du geboren? Und wie alt bist du?«
Anne, die sich nur ungern mit nackten Tatsachen befasste, hob resigniert die Schultern. »Im letzten März bin ich elf geworden«, berichtete sie. »Geboren wurde ich in Bolingbroke, Nova Scotia. Mein Vater hieß Walter Shirley und unterrichtete dort an der Schule. Meine Mutter hieß Bertha Shirley. Walter und Bertha - sind das nicht wunderschöne Namen? Es wäre doch schrecklich, wenn man einen Vater namens >Hesekiel> hätte!«
»Ich glaube nicht, dass es eine Rolle spielt, wie ein Mensch heißt, wenn er sich nur anständig zu benehmen weiß«, wandte Marilla ein. »Also, ich weiß nicht. Ich habe zwar mal in einem berühmten Buch gelesen: >Was ist schon ein Name? Wie die Rose auch hieße, sie würde lieblich duften<, aber das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Eine Rose würde doch nie so süß duften, wenn sie >Distel< hieße oder gar >Kohlkopf<. Obwohl ich glaube, dass mein Vater sicherlich auch dann ein anständiger Mensch
Weitere Kostenlose Bücher