Anne auf Green Gables
in einem Tonfall, der ihre Zweifel deutlich hören ließ. »Sag aber bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, wenn er vielleicht Green Gables ansteckt oder Strychnin in den Brunnen schüttet. Erst kürzlich ist mir ein Fall zu Ohren gekommen, wo eine Waise drüben in New Brunswick auf diese Art eine ganze Familie ausgelöscht hat. Allerdings handelte es sich dabei um ein Mädchen.«
»Naja, von einem Mädchen ist ja auch nicht die Rede«, gab Marilla zurück, als wäre das Vergiften von Brunnen eine typisch weibliche Angewohnheit. »Ich würde nicht im Traum daran denken, ein Mädchen aufzuziehen. Ich frage mich sowieso schon, wie Mrs Alexander Spencer auf diese Idee gekommen ist. Aber sie würde ja nicht mal davor zurückschrecken, ein ganzes Waisenhaus zu adoptieren, wenn sie es sich einmal in den Kopf gesetzt hätte.«
Mrs Rachel wäre zu gerne dageblieben, bis Matthew mit dem kleinen Waisenjungen zurückkehrte. Doch da es bis dahin noch mindestens zwei Stunden dauern würde, entschied sie sich lieber dafür, zu den Beils hinüberzugehen und ihnen brühwarm von dieser Neuigkeit zu berichten. Das würde die Sensation sein! Und Mrs Rachel liebte es nun mal Sensationen zu verbreiten.
Marilla war erleichtert, als Mrs Rachel aufstand; in ihrer Gegenwart fühlte sie all ihre Zweifel und Bedenken wachsen.
»Das hat gerade noch gefehlt!«, rief Mrs Rachel aus, als sie wieder allein auf den Hohlweg war. »Das Ganze kommt mir immer noch wie ein Traum vor. Mir tut vor allem das kleine Wesen Leid. Matthew und Marilla haben doch überhaupt keine Ahnung von Kindererziehung! Ein Kind auf Green Gables, das ist eine geradezu gespenstische Vorstellung. Es hat dort niemals Kinder gegeben. Matthew und Marilla waren ja schon groß, als das Haus gebaut wurde - falls die beiden überhaupt jemals kleine Kinder gewesen sind, was man manchmal bezweifeln möchte. Um nichts in der Welt möchte ich in der Haut dieses Waisenknaben stecken!«
Das alles erzählte Mrs Rachel den wilden Rosenbüschen am Wegesrand und machte so ihrer Empörung Luft. Hätte sie allerdings in diesem Moment das Kind sehen können, das geduldig auf dem Bahnhof von Bright River darauf wartete, abgeholt zu werden - ihr Mitleid wäre noch stärker gewesen.
02 - Matthew Cuthbert erlebt eine Überraschung
Matthew Cuthbert fuhr mit seinem Einspänner durch lichte Tannenwälder und grüne Täler, vorbei an Gehöften und blühenden Obstgärten. Bis Bright River waren ungefähr acht Meilen zurückzulegen und Matthew genoss die Fahrt auf seine Art sehr. Nur wenn ihm Frauen entgegenkamen, war ihm das äußerst unangenehm. Er musste sie ja mindestens mit einem Kopfnicken bedenken, denn auf Prince Edward Island war es üblich jeden zu grüßen, den man auf der Straße traf - ob man ihn nun kannte oder nicht.
Matthew fürchtete sich vor Frauen. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass diese rätselhaften Geschöpfe sich heimlich über ihn lustig machten - womit er nicht unbedingt Unrecht hatte. Seine Bewegungen waren linkisch und mit seinen langen, grauen Haaren, den krummen Schultern und dem Schnurrbart, den er schon seit seinem zwanzigsten Lebensjahr trug, gab er ein ziemlich sonderbares Bild ab. Eigentlich hatte er mit zwanzig schon so ausgesehen wie jetzt mit sechzig - abgesehen von den grauen Haaren natürlich.
Als Matthew auf dem Bahnhof von Bright River ankam, war von einem Zug weit und breit nichts zu sehen. Der lange Bahnsteig war menschenleer; das einzige lebende Geschöpf war ein Mädchen, das ganz am anderen Ende auf einem großen Kieshaufen saß. Matthew, der vage wahrgenommen hatte, dass es sich um ein weibliches Wesen handelte, schlich sich so schnell wie möglich an ihm vorbei, ohne es auch nur anzusehen. Hätte er genauer hingeschaut, wäre ihm der Ausdruck von Spannung und Hoffnung auf dem blassen Gesicht sicherlich nicht entgangen. Das Mädchen saß da und wartete auf irgendetwas. Und da es im Moment auch keine andere Möglichkeit hatte, sich zu beschäftigen, gab es sich eben voll und ganz dem Warten hin.
»Wird der Nachmittagszug pünktlich sein?«, erkundigte sich Matthew bei dem Stationsvorsteher, der gerade sein Büro abschloss und nach Hause gehen wollte.
»Der ist schon seit einer halben Stunde durch«, erwiderte der Vorsteher schroff. »Aber es ist nur ein Fahrgast ausgestiegen, der zu Ihnen gehört, ein kleines Mädchen. Es sitzt da draußen auf dem Kies. Mrs Spencer hat es abgesetzt und meint, es sei ein Waisenkind, das Sie und Ihre Schwester
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