Anne auf Green Gables
einen kleinen Jungen aus dem Waisenhaus von Nova Scotia (Kanadische Provinz am Atlantik). Er kommt mit dem Nachmittagszug.«
Hätte Marilla gesagt, Matthew wäre nach Bright River gefahren, um dort ein australisches Känguru abzuholen - Mrs Rachel hätte nicht überraschter sein können. Volle fünf Sekunden lang verschlug es ihr glatt die Sprache. Es war zwar kaum zu glauben, dass Marilla sie auf den Arm nehmen wollte, aber diesmal lag der Verdacht doch sehr nahe.
»Das ist doch nicht dein Ernst, Marilla?«, rief Mrs Rachel, als sie ihre Stimme wieder gefunden hatte.
»Doch, natürlich«, sagte Marilla so selbstverständlich, als ob es zu den üblichen Frühlingsarbeiten auf jeder normalen Farm in Avonlea gehörte, einen Waisenjungen aus Nova Scotia von der Bahn abzuholen.
Mrs Rachel war entsetzt. »Wie um alles in der Welt seid ihr denn nur auf diese Idee gekommen?«, fragte sie missbilligend. Man hatte sie nicht mal um Rat gefragt und das allein war Grund genug, der Sache mit Ablehnung zu begegnen.
»Nun, wir hatten es uns schon eine ganze Weile überlegt, eigentlich schon den ganzen Winter über«, erwiderte Marilla. »Mrs Alexander Spencer war kurz vor Weihnachten hier und erzählte uns, sie wolle im Frühjahr ein kleines Mädchen aus dem Waisenhaus in Hopetown adoptieren. Seitdem ist uns die Sache nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Wir haben uns aber für einen Jungen entschieden. Matthew ist schließlich auch nicht mehr der Jüngste. Er ist schon sechzig und ist nicht mehr so schnell auf den Beinen. Sein Herz macht ihm ziemlich zu schaffen. Und du weiß ja, wie schwer es ist, heutzutage einen guten Arbeiter zu finden - abgesehen von diesen halbwüchsigen Franzosen. Die sind zu haben, aber sobald man sie eingewiesen und angelernt hat, verschwinden sie in die Staaten, um in den neuen Konservenfabriken das große Geld zu verdienen. Naja, und da haben wir letzte Woche gehört, dass Mrs Spencer nach Hopetown fahren wolle, um ihr kleines Mädchen zu holen. Wir haben ihr durch Robert Spencers Familie in Carmody ausrichten lassen, sie solle uns doch bitte einen tüchtigen, anständigen jungen Burschen von zehn oder elf Jahren mitbringen. Dieses Alter erschien uns am besten. Dann ist er alt genug, um gleich von Anfang an auf der Farm mit anzupacken, aber noch jung genug, um noch allerhand lernen zu können und sich einzufügen. Wir wollen ihm ein gutes Zuhause geben und ihn auch zur Schule schicken. Ja, und heute brachte uns der Postbote das Telegramm von Mrs Alexander Spencer. Sie wollte heute mit dem Nachmittagszug in Bright River sein und den Jungen dort absetzen. Sie selbst fährt gleich weiter nach White Sands.«
Mrs Rachel hielt sich selbst viel darauf zugute, dass sie immer ganz offen sagte, was sie dachte. Und dieser Gewohnheit folgte sie auch jetzt, nachdem sie die erstaunliche Neuigkeit erst mal verdaut hatte. »Nun, Marilla, ich will dir meine ehrliche Meinung sagen. Ihr seid dabei, einen großen Fehler zu begehen - jawohl! Wer weiß, was ihr euch damit einhandelt. Ein fremdes Kind ins Haus zu nehmen, von dem ihr überhaupt nicht wisst, welche Anlagen es mitbringt und was für Eltern es hat! Erst letzte Woche habe ich in der Zeitung von einem Ehepaar gelesen, das einen Waisenjungen adoptiert hat, und er hat ihnen nachts das Haus angesteckt - und zwar mit voller Absicht, Marilla -, sodass sie fast in ihren Betten verbrannt sind. Und ich habe noch von einem anderen Fall gehört, wo ein Junge aus einem Waisenhaus immer die Eier ausgelutscht hat. Es war ihm einfach nicht abzugewöhnen. Wenn du mich um Rat gefragt hättest - was du ja leider nicht getan hast, Marilla -, dann hätte ich euch gesagt: Lasst um Himmels willen die Finger davon - jawohl!«
Doch all diese Hiobsbotschaften konnten Marilla nicht aus der Fassung bringen. Sie strickte seelenruhig weiter.
»Da ist schon was dran an dem, was du sagst. Ich hatte zuerst ja auch meine Bedenken. Aber Matthew hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt und da habe ich nachgegeben. Es kommt so selten vor, dass Matthew wirklich mal sein Herz an etwas hängt. Und was das Risiko angeht, so ist eigentlich alles riskant, was man auf dieser Welt tut. Eigene Kinder zu kriegen ist auch nicht so sicher; die können genauso missraten. Außerdem ist Nova Scotia nicht so weit von unserer Insel entfernt. Der Junge kommt ja nicht aus England oder aus den Staaten, folglich kann er auch nicht so viel anders sein als wir.«
»Nun, hoffen wir das Beste«, sagte Mrs Rachel
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