Anne auf Green Gables
ausgedacht, weil ich tagsüber dazu keine Zeit hatte. Vielleicht bin ich deshalb so dünn - ich bin furchtbar dünn, nicht wahr? Ich habe kein Gramm Fett auf den Knochen. Aber ich stelle mir oft vor, ich wäre hübsch und rund und hätte Grübchen in den Ellenbogen.«
Damit fand der Redefluss von Matthews Reisegefährtin zunächst einmal ein Ende. Die Kleine war etwas außer Atem geraten und außerdem hatten sie inzwischen die Kutsche erreicht. Jetzt kam kein Ton mehr über ihre Lippen, bis sie Bright River verlassen hatten und einen steilen Berg hinunterfuhren. Links und rechts vom Weg standen blühende Kirschbäume und schlanke Birken, deren Äste sich direkt über ihren Köpfen wiegten.
Das Kind streckte die Hand aus und brach sich einen Zweig mit weißen Blüten ab.
»Ist er nicht wunderschön? Woran hat Sie der weiße Baum erinnert, der sich da eben so weit über die Straße lehnte?«
»Hm, tja ... ich weiß nicht«, sagte Matthew.
»Na, an eine Braut natürlich - eine Braut in Weiß mit einem durchsichtigen Schleier. Ich habe zwar noch nie eine Braut gesehen, aber ich kann sie mir gut vorstellen. Allerdings glaube ich nicht, dass ich jemals selbst eine Braut sein werde. Ich bin so hässlich, mich will bestimmt niemand heiraten - höchstens irgendein Missionar vielleicht. Wer als Missionar in der Fremde lebt, ist vielleicht nicht so wählerisch, oder? Aber ich hoffe doch, dass ich eines Tages wenigstens ein hübsches Kleid bekommen werde. Das ist mein höchster Wunsch auf Erden. Ich hab mich heute Morgen nämlich fürchterlich geschämt, weil ich dieses schreckliche alte Flanellkleid tragen musste. Alle Waisenkinder tragen diese Dinger, wissen Sie. Ein Kaufmann in Hopetown hat dem Heim letzten Winter dreihundert Meter Flanellstoff geschenkt. Einige Leute sagen, das hätte er nur getan, weil er den Stoff nicht verkaufen konnte, aber ich glaube, er hat es bestimmt gut gemeint, finden Sie nicht auch? Als ich in den Zug stieg, hatte ich das Gefühl, dass alle Leute mich anstarrten und Mitleid mit mir hatten. Aber ich habe mir einfach vorgestellt, ich trüge ein wunderbares Kleid aus reiner blauer Seide - wenn man sich schon etwas vorstellt, dann soll es sich ja auch lohnen - und einen großen Hut mit Blumen und Federn und eine goldene Armbanduhr und weiße Lederhandschuhe und passende Stiefel. Da hab ich mich schon gleich viel besser gefühlt und konnte die Reise nach Leibeskräften genießen. Ach, die Überfahrt zur Insel war himmlisch! Auf dem Schiff gab es so viel zu sehen und ich wollte nichts verpassen. Wer weiß, ob ich in meinem Leben noch einmal die Gelegenheit habe, mit einem Schiff zu reisen . . . Oh, da drüben stehen noch mehr blühende Kirschbäume! Ich habe noch nie so ein Blütenmeer gesehen. Die Insel ist wirklich wunderschön. Ich bin so glücklich, dass ich hier leben darf. Ich habe schon oft sagen hören, Prince Edward Island sei das schönste Fleckchen Erde der Welt, und da habe ich gleich davon geträumt, dass ich dort einmal leben werde. Aber ich hätte nie gedacht, dass dieser Traum einmal Wirklichkeit werden sollte. Es ist schön, wenn Träume plötzlich wahr werden, finden Sie nicht? - Diese roten Wege sehen so lustig aus. Als wir mit dem Zug aus Charlottetown herausfuhren und die roten Wege an unserem Fenster vorbeiflogen, da habe ich Mrs Spencer gefragt, weshalb sie so rot sind, und die meinte, sie wisse es nicht und ich solle um Himmels willen aufhören, ihr so viele Fragen zu stellen. Mindestens tausend Stück hätte ich ihr schon gestellt. Wahrscheinlich hatte sie Recht. Aber wie soll man Dinge herausfinden, wenn man keine Fragen stellt? - Wieso sind die Wege eigentlich rot, Mr Cuthbert?«
»Ich weiß nicht«, antwortet Matthew.
»Das muss ich dann also noch herausfinden. Ist es nicht eine herrliche Vorstellung, dass es noch so viele Dinge zu erforschen gibt? Ich bin so froh, dass ich auf der Welt bin. Die Welt ist so interessant! Und wenn wir schon alles wüssten, wäre sie nur halb so schön, nicht wahr? Man hätte überhaupt keinen Raum für Phantasie, oder? Aber ich rede wohl mal wieder zu viel. Das habe ich schon oft zu hören bekommen. Soll ich still den Mund halten? Wenn es sein muss, kann ich auch still sein, obwohl es mir, ehrlich gesagt, ziemlich schwer fällt.« Zu seinem eigenen Erstaunen fühlte Matthew sich wohl. Wie viele stille Menschen war er gern mit Leuten zusammen, die von sich aus den größten Teil der Unterhaltung bestritten und von ihrem Gegenüber nicht
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