Anne in Avonlea
Tee kochen, den Sie je getrunken haben. Aber machen Sie nur. Zum Glück hat es letzten Sonntag geregnet, also ist noch genügend sauberes Geschirr da.«
Anne sprang flink auf und machte sich an die Arbeit. Sie spülte die Teekanne mehrere Male, ehe sie den Tee aufbrühte. Dann wischte sie den Herd ab und deckte den Tisch mit Geschirr, das sie aus der Speisekammer holte. Anne war hell entsetzt über den Zustand der Speisekammer, verlor aber klugerweise kein Wort darüber. Mr Harrison sagte ihr, wo Brot, Butter und eine Dose mit Pfirsichen zu finden waren. Sie stellte einen Strauß Blumen aus dem Garten auf den Tisch und übersah geflissentlich die Flecken auf der Tischdecke. Der Tee war schnell gekocht und Anne saß schließlich Mr Harrison gegenüber, goss ihm Tee ein und plauderte zwanglos mit ihm über die Schule, ihre Freunde und Pläne. Sie konnte es selbst kaum fassen. Mr Harrison hatte Ginger wieder hereingeholt, weil er meinte, der arme Vogel würde sich einsam und verlassen fühlen. Anne, die allen und jedem vergeben konnte, bot ihm eine Walnuss an. Aber Ginger war schwer gekränkt und lehnte jedes Freundschaftsangebot ab. Er hockte verstimmt auf seiner Stange und plusterte die Federn auf, bis er wie eine grüngelbe Kugel aussah.
»Warum nennen Sie ihn Ginger?«, fragte Anne, der treffende Namen gefielen. Aber sie fand, dass Ginger - Ingwer - ganz und gar nicht zu einem so prächtigen Federkleid passte.
»Mein Bruder, der Seemann, hat ihm den Namen gegeben. Ich hänge an diesem Vogel - Sie glauben gar nicht, wie sehr. Natürlich hat er seine Fehler. Ich habe mir seinetwegen schon jede Menge Ärger eingehandelt. Manchen gefällt sein Gefluche nicht, aber er lässt es sich nicht austreiben. Ich habe es versucht, andere haben es versucht. Manche können Papageien nicht ausstehen, albern, nicht wahr? Ich mag Papageien. Ginger leistet mir Gesellschaft. Nichts könnte mich dazu bewegen, diesen Vogel aufzugeben - nichts auf der Welt, Miss.«
Mr Harrison schleuderte Anne diesen Satz regelrecht an den Kopf, so als verdächtige er sie, sie wolle ihn insgeheim dazu bewegen, Ginger aufzugeben. Anne jedoch fand allmählich Gefallen an dem eigensinnigen, kribbeligen Mann, der so viel Getöse machte. Noch ehe sie den Tee ausgetrunken hatten, waren sie gute Freunde. Mr Harrison erkundigte sich nach dem Dorfverschönerungs-Verein und fand den Plan gut.
»Das ist gut. Treiben Sie die Sache voran. Hier gäbe es noch einiges zu verbessern ... bei den Leuten selbst auch.«
»Oh, ich weiß nicht«, sagte Anne schnell. Sich selbst oder ihren allerbesten alten Freunden hätte sie durchaus eingestanden, dass es den einen oder anderen - leicht zu behebenden - Mangel gab, in Avonlea wie auch bei seinen Bewohnern. Aber es sich von jemand sagen lassen zu müssen, der praktisch fremd war, das war etwas völlig anderes. »Ich finde, Avonlea ist ein reizender Ort und seine Bewohner auch.«
»Ich denke, das war wohl nur ein Anflug von Nettigkeit«, bemerkte Mr Harrison und musterte ihre roten Wangen und empört blickenden Augen. »Es muss mit Ihrer Haarfarbe zu tun haben. Avonlea ist ein anständiger Ort, sonst hätte ich mich nicht hier niedergelassen. Aber Sie werden doch wohl zugeben, dass er ein paar Mängel hat?«
»Deshalb gefällt er mir nur umso besser«, sagte Anne, treu wie sie war. »Ich mag weder Orte noch Menschen, die keine Mängel haben. Ein vollkommener Mensch wäre einfach uninteressant. Mrs Milton White sagt, sie hätte noch keinen vollkommenen Menschen kennen gelernt, aber hinlänglich von einem gehört - nämlich der ersten Frau ihres Mannes. Meinen Sie nicht auch, dass es sehr unerfreulich sein muss, mit einem Mann verheiratet zu sein, dessen erste Frau vollkommen war?«
»Noch unerfreulicher wäre es, mit der vollkommenen Frau verheiratet zu sein«, erklärte Mr Harrison unvermittelt und in einem unerklärlich eifrigen Ton.
Als sie mit dem Tee fertig waren, bestand Anne darauf abzuwaschen, obwohl Mr Harrison ihr versicherte, es wäre noch für Wochen genügend Geschirr da. Am liebsten hätte sie auch den Flur gefegt, aber da war weit und breit kein Besen zu sehen und danach fragen mochte sie nicht aus Angst, dass vielleicht gar keiner im Haus war.
»Sie können mich ja ab und zu besuchen kommen«, schlug Mr Harrison vor, als sie aufbrach. »Ist ja nicht weit und als Nachbarn sollte man gut miteinander auskommen. Ich bin irgendwie auch an Ihrem Verein da interessiert. Könnte ja noch ganz heiter werden. Wen
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