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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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ein Mädchen deines Alters.«
    Die arme Barbara stolperte an ihren Tisch zurück. Ihr von Tränen und Kohlestaub verschmiertes Gesicht bot einen wahrhaft grotesken Anblick. Nie zuvor hatte ihre geliebte, verständnisvolle Lehrerin in diesem Ton und in einer solchen Weise mit ihr gesprochen. Es brach Barbara das Herz. Anne hatte Gewissensbisse, aber das machte ihre Verwirrung nur noch größer. Die Schüler der zweiten Klasse erinnern sich noch heute an diese Unterrichtsstunde, ebenso wie an die dann folgende grausame Rechenstunde. Als Anne gerade die Aufgaben einsammelte, erschien völlig außer Atem St. Clair Donnell.
    »Du kommst eine halbe Stunde zu spät, St. Clair«, begrüßte Anne ihn eisig. »Warum?«
    »Bitte, Miss, ich musste meiner Mutter zum Mittagessen einen Pudding zubereiten helfen, weil wir Besuch erwarten, und Clarice Almira ist krank«, lautete St. Clairs höchst respektvolle Antwort, die aber dennoch unter seinen Mitschülern große Heiterkeit auslöste.
    »Setz dich! Zur Strafe rechnest du die sechs Aufgaben im Buch auf Seite 45«, sagte Anne. St. Clair sah einigermaßen verwundert drein ob ihres Tonfalls, ging aber gehorsam an seinen Platz und holte die Tafel hervor. Dann reichte er heimlich Joe Sloane quer über den Gang ein kleines Päckchen. Anne erwischte ihn dabei auf frischer Tat und zog aus dem Muster des Einpackpapiers voreilig einen verhängnisvollen Schluss. Mrs Hiram Sloane hatte sich vor kurzem auf das Backen und Verkaufen von »Nusskuchen« verlegt, um damit ihr dürftiges Einkommen aufzubessern. Die Kuchen stellten vor allem für kleinejungen eine besondere Versuchung dar. Seit einigen Wochen hatte Anne deswegen erheblichen Ärger gehabt. Auf dem Weg zur Schule gaben die Jungen ihr spärliches Taschengeld bei Mrs. Hiram aus, brachten die Kuchen mit zur Schule, verspeisten sie womöglich in den Schulstunden und verteilten sie an ihre Freunde. Anne hatte ihnen gedroht, die Kuchen zu beschlagnahmen, wenn sie weiterhin welche mit zur Schule brächten. Und doch ging St. Clair Donnell eiskalt hin und reichte ein Stück Kuchen weiter, eingepackt in Mrs. Hirams blauweiß gestreiftes Papier - und das vor ihren Augen. »Joseph«, sagte Anne ruhig, »bring das Papier her.«
    Joe, verdutzt und beschämt, gehorchte. Er war ziemlich dick und wurde jedes Mal rot und fing an zu stottern, wenn er Angst hatte. Nie sah jemand schuldbewusster aus als Joe in diesem Augenblick.
    »Wirf es ins Feuer«, sagte Anne.
    Joe schaute fassungslos.
    »B-b-b-bitte, M-M-Miss«, begann er.
    »Tu, was ich dir sage.Joseph, und kein Wort mehr.«
    »A-a-a-ber, M-M-Miss, e-e-e-es sind ...«, keuchte Joe verzweifelt. »Joseph, gehorchst du jetzt oder nicht?«, sagte Anne.
    Auch ein mutigerer und selbstbewussterer Junge als Joe Sloane wäre von dem Ton und dem gefährlichen Funkeln in ihren Augen eingeschüchtert gewesen. Dies war eine neue Anne, wie ihre Schüler sie noch nie erlebt hatten. Joe ging mit einem gequälten Blick auf St. Clair zum Ofen, öffnete die große viereckige vordere Ofenklappe und warf das blauweiß gestreifte Papier hinein, noch ehe St. Clair, der aufgesprungen war, etwas sagen konnte. Dann machte Joe gerade noch rechtzeitig einen Satz zur Seite.
    Einen Augenblick lang wussten die erschrockenen Schüler und ihre Lehrerin nicht, ob sie ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch überlebt hatten. Das unschuldig aussehende Papier, in dem Anne vorschnell Mrs Hirams Nusskuchen vermutet hatte, enthielt in Wirklichkeit Kracher und Feuerräder. Warren Sloane war am Vortag von St. Clair Donnels Vater extra deswegen in die Stadt geschickt worden. Sie waren für eine Geburtstagsfeier an diesem Abend gedacht. Die Kracher gingen mit einem Donnerknall los, die Feuerräder schossen aus dem Ofen und sausten zischend und spuckend wild durch den Raum. Anne sank bleich vor Entsetzen in ihren Stuhl, alle Mädchen kletterten kreischend auf die Tische. Joe Sloane stand wie gelähmt inmitten des Tumults, St. Clair, der sich vor Lachen nicht halten konnte, bewegte sich taumelnd im Gang auf und ab. Prillie Rogerson fiel in Ohnmacht, Annetta Bell bekam einen Schreikrampf.
    Es schien wie eine Ewigkeit, in Wirklichkeit jedoch waren es nur ein paar Minuten, bis das letzte Feuerrad erlosch. Anne, die sich wieder gefasst hatte, riss Tür und Fenster auf, um den Gestank und den Rauch im Raum loszuwerden. Dann half sie den Mädchen, die ohnmächtige Prillie auf den Flur hinauszutragen, wo Barbara Shaw, in dem verzweifelten Wunsch, sich

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