Anne in Avonlea
Musterbeispiel an gutem Benehmen, aber sie besitzt nicht die Spur Originalität. Hier nun ihr Brief:
Liebste Lehrerin,
ich schreibe Ihnen, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich Sie liebe. Ich liebe Sie von ganzem Herzen, ganzer Seele und mit all meinen Gedanken - so sehr, wie ich jemanden nur lieben kann -, und ich möchte auf ewig die Ihre sein. Das wäre mir die höchste Ehre. Deswegen strenge ich mich in der Schule auch so an und lerne meine Hausaufgaben.
Sie sind so schön, meine liebe Lehrerin. Ihre Stimme ist wie Musik und Ihre Augen wie mit Tau bedeckte Stiefmütterchen. Sie sind wie eine große würdevolle Königin. Ihr Haar ist wie dahinßießendes Gold. Anthony Pye sagt, es ist rot, aber Sie brauchen auf Anthony nicht zu hören.
Ich kenne Sie erst seit ein paar Monaten, aber ich kann mir die Zeit ohne Sie nicht mehr vorstellen - eine Zeit, als Sie noch nicht in mein Leben getreten waren und es beglückt und verschönt haben. Ich werde stets auf dieses Jahr als das wundervollste in meinem Leben zurückblicken, weil es mir Sie gebracht hat. Außerdem ist es das Jahr, in dem wir von Newbridge nach Avonlea gezogen sind. Meine Liebe zu Ihnen hat mein Leben sehr bereichert und mich von vielem Bösen abgehalten. Ich habe dies alles nur Ihnen zu verdanken, meine liebste Lehrerin.
Ich werde nie vergessen, wie süß Sie letztens in dem schwarzen Kleid und mit den Blumen im Haar ausgesehen haben. So werde ich Sie immer vor mir sehen, auch wenn wir beide alt und grau sind. Für mich bleiben Sie ewig jung und hübsch, liebste Lehrerin. Ich denke die ganze Zeit an Sie... ob am Morgen, am Mittag oder am Abend. Ich liebe Sie, wenn Sie lachen und wenn Sie seufzen - und auch, wenn Sie verärgert dreinschauen. Ich habe Sie nie ärgerlich gesehen, obwohl Anthony Pye sagt, Sie würden ständig ärgerlich aussehen, aber mich wundert nicht, dass Sie ihn ärgerlich anschauen, denn er verdient es. Ich liebe Sie, gleichgültig, welches Kleid Sie anhaben ... Sie sehen in jedem neuen nur noch entzückender aus.
Liebste Lehrerin, gute Nacht. Die Sonne ist untergegangen und die Sterne leuchten - Sterne, so strahlend und schön wie Ihre Augen. Ich küsse Ihre Hände und Ihr Gesicht, meine Liebe. Möge Gott Sie beschützen und Sie vor allem Unglück bewahren.
Ihre Sie liebende Schülerin
Annetta Bell
Dieser ungewöhnliche Brief verwirrte mich einigermaßen. Ich wusste, dass sie, so wenig wie sie fliegen kann, diese Zeilen geschrieben hatte. Tags darauf in der Schule nahm ich sie in der Pause mit auf einen Spaziergang an den Bach und bat sie, mir die Wahrheit zu sagen. Annetta begann zu weinen und gab freimütig alles zu. Sie hätte noch nie einen Brief geschrieben und wüsste nicht, wie das ginge und was sie schreiben solle, aber in der obersten Schreibtischschublade ihrer Mutter läge ein Bündel Liebesbriefe von einem ihrer früheren Verehren.
»Sie stammen nicht von meinem Vater«, schluchzte Annetta, »sie stammen von einem, der studierte und Pfarrer werden wollte. Daher verstand er sich auch darauf, so reizende Briefe zu schreiben, aber Ma hat ihn schließlich doch nicht geheiratet. Sie sagt, sie wäre nicht aus ihm schlau geworden. Aber ich fand die Briefe schön. Deshalb habe ich einfach hier und da ein paar Stellen abgeschrieben und an Sie geschickt. Wo >Dame< stand, habe ich >Lehrerin< eingesetzt, und ein paar Wörter habe ich ausgetauscht. Für >Stimmung< habe ich >Kleid< eingesetzt. Ich wusste nicht genau, was >Stimmung< bedeutet, aber ich dachte, es wäre was zum Anziehen. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie den Unterschied kennen. Ich verstehe nicht, wie Sie herausgefunden haben, dass nicht alles von mir stammt. Sie müssen ganz schön klug sein.«
Ich sagte zu Annetta, dass es sich nicht gehört, anderer Leute Briefe abzuschreiben und so zu tun, als stamme es von ihr. Aber ich fürchte, Annetta hat nur Leid getan, dass ich ihr auf die Schliche gekommen bin.
»Aber ich liebe Sie wirklich«, schluchzte sie. »Es hat alles gestimmt, auch wenn es eigentlich der Pfarrer geschrieben hat.«
Ich brachte es nicht über mich, mit ihr zu schimpfen.
Hier nun Barbara Shaws Brief. Die Tintenkleckse des Originals kann ich nicht wiedergeben.
Liebe Lehrerin,
Sie sagten, wir könnten über einen Besuch schreiben. Ich habe nur einmal einen Besuch gemacht. Das war letzten Winter bei meiner Tante Mary. Meine Tante Mary ist eine ganz besondere Frau und versteht sich auf Hauswirtschaft. Gleich am ersten Abend beim Tee hab
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