Anne in Avonlea
so. Ich bin in Wut geraten und habe Anthony Pye geschlagen.«
»Das höre ich gern«, sagte Marilla entschieden. »Das hättest du schon längst tun sollen.«
»0 nein, nein, Marilla. Ich weiß nicht, wie ich den Kindern je wieder ins Gesicht sehen kann. Ich habe mich selbst aufs Tiefste gedemütigt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wütend und hasserfüllt und scheußlich ich war. Paul Irvings Blick will mir nicht mehr aus dem Sinn - er schaute so verwundert und enttäuscht zugleich. Marilla, ich habe mir solche Mühe gegeben, nicht die Geduld zu verlieren und Anthonys Zuneigung zu gewinnen - und jetzt war alles umsonst.«
Marilla strich mit ihrer kräftigen, abgearbeiteten Hand zärtlich über Annes glänzendes, zerzaustes Haar. Als Anne schließlich aufhörte zu weinen, sagte sie sehr sanft zu ihr: »Du nimmst dir alles zu sehr zu Herzen, Anne. Wir alle machen Fehler, aber die Leute vergessen sie. Und rabenschwarze Tage erlebt jeder. Was Anthony Pye angeht, wozu machst du dir Gedanken, wenn er dich nicht mag? Er ist der Einzige, der dich nicht leiden kann.«
»Ich kann mir nicht helfen, ich möchte, dass alle mich mögen. Es tut mir weh, wenn jemand mich nicht mag. Anthony wird mich nun nie mehr mögen. Ich habe mich heute selbst zum Trottel gemacht, Manila. Ich erzähle dir die ganze Geschichte ...«
Marilla hörte sich alles an, und wenn sie über die eine oder andere Passage lachte, so bemerkte Anne es nicht. Als Anne zu Ende war, sagte Marilla lebhaft: »Mach dir nichts daraus. Heute ist vorbei und morgen ist ein neuer Tag, ein blütenreiner Tag, wie du selbst immer sagst. Komm nach unten und iss zu Abend. Du wirst sehen, eine gute Tasse Tee und die Pflaumen-Windbeutel, die ich heute gebacken habe, werden dich aufmuntern.«
»Pflaumen-Windbeutel helfen nicht gegen eine kranke Seele«, sagte Anne untröstlich. Aber Marilla sah es als ein gutes Zeichen an, dass sie sich soweit wieder erholt hatte und es mit dieser Bemerkung quittierte.
Die heitere Versammlung am Abendbrottisch mit den strahlenden Gesichtern der Zwillinge und Marillas unvergleichlichen Pflaumen-Windbeuteln - von denen Davy vier aß - munterten sie schließlich doch auf. In dieser Nacht schlief sie gut, und als sie am Morgen aufwachte, war sie selbst und die Welt wie umgewandelt. Es hatte die ganze Nacht hindurch in leichten dicken Flocken geschneit. Die weiße Pracht, die im kalten Sonnenschein glitzerte, sah aus wie der Mantel der Nächstenliebe, der alle Fehler und Demütigungen der Vergangenheit verhüllte.
»Jeder Morgen ist ein neuer Anfang,
Jeden Morgen ist die Welt wie neu«, sang Anne, als sie sich anzog.
Wegen des Schnees musste sie zur Schule den Weg über die Straße nehmen. Sie hielt es zweifellos für einen gemeinen Zufall, dass sie auf Anthony traf, der sich ebenfalls mühsam den Weg bahnte, als sie aus dem Hohlweg bog. Sie fühlte sich so schuldbewusst, als hätten sie ihre Positionen gewechselt. Aber zu ihrem unbeschreiblichen Erstaunen zog Anthony nicht nur die Mütze - was er noch nie getan hatte sondern sagte leichthin: »Ist schlecht zum Laufen, nicht wahr? Darf ich die Bücher für Sie tragen, Miss?«
Anne reichte ihm die Bücher und fragte sich, ob sie womöglich träumte. Anthony setzte schweigend den Weg fort, und als sie bei der Schule ankamen und Anne die Bücher an sich nahm, lächelte sie ihn an - es war nicht das abgedroschene »freundliche« Lachen, das sie ihm so hartnäckig vorgetäuscht hatte, sondern ein plötzliches Aufleuchten einer echten Kameradschaft. Anthony lächelte - nein, um die Wahrheit zu sagen -, Anthony grinste zurück. Ein Grinsen ist im Allgemeinen nicht ein Ausdruck des Respekts. Und doch spürte Anne plötzlich, dass sie zwar nicht Anthonys Zuneigung gewonnen hatte, aber seinen Respekt genoss.
Mrs Rachel Lynde kam am folgenden Samstag vorbei und bestätigte es. »Na, Anne, du hast also Anthony Pyes Zuneigung gewonnen. Er sagt, irgendwie wärst du ganz in Ordnung, auch wenn du ein Mädchen bist. Er meint, die Trächt Prügel, die du ihm verpasst hast, könnte es mit einer von einem Mann aufnehmen.«
»Trotzdem, ich hatte nie vor, ihn durch eine Tracht Prügel für mich einzunehmen«, sagte Anne ein wenig traurig und fühlte, dass ihre Ideale ein falsches Spiel mit ihr getrieben hatten. »Es stimmt nicht. Ich bin sicher, meine Theorie von der Freundlichkeit kann nicht falsch sein.«
»Nein, aber die Pyes stellen in jeder Beziehung eine Ausnahme dar«, verkündet Mrs Rachel
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