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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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deswegen kann ich mir doch vorstellen, es gäbe sie. Sie verstehen schon. Geduldig versuchte ich es noch einmal. >Also, Mary Joe, weißt du, was ich denke? Ich denke, dass nach Sonnenuntergang ein Engel über die Erde geht - ein riesengroßer weißer Engel mit silbrigen zusammengefalteten Flügeln - und die Blumen und Vögel in den Schlaf singt. Kinder können ihn hören, wenn sie es nur verstehen, ihm zu lauschen.< Da hob Mary Joe die ganz mit Mehl bedeckten Hände und sagte: >Hm, du bist ein seltsamer Junge. Du machst mir Angst.< Sie sah wirklich ganz verängstigt aus. Ich ging hinaus und erzählte flüsternd alle meine Gedanken dem Garten. Im Garten stand eine kleine absterbende Birke. Großmutter sagt, es käme von der salzigen Gischt. Aber ich glaube, die Dryade, die darin wohnte, war so dumm, ging hinaus in die Welt und verschwand. Der kleine Baum war so einsam, dass er an gebrochenem Herzen starb.«
    »Und wenn die dumme kleine Dryade die Welt satt hat und zu ihrem Baum zurückkommt, wird es ihr das Herz brechen«, sagte Anne.
    »Ja, aber wenn Dryaden so dumm sind, müssen sie auch mit den Folgen leben, so wie die Menschen«, sagte Paul ernst. »Wissen Sie, was ich über den Neumond denke? Ich denke, er ist ein goldenes Boot voller Träume.«
    »Und wenn er eine Wolke berührt, werden ein paar Träume verschüttet und fallen in deinen Schlaf.«
    »Genau! Oh, Sie verstehen das. Und Veilchen sind kleine Schnipsel vom Himmel, die heruntergefallen sind, als die Engel Löcher hineinschnitten, durch die hindurch die Sterne leuchten. Und Butterblumen bestehen aus altem Sonnenschein. Und Erbsen verwandeln sich im Himmel zu Schmetterlingen. Nun, finden Sie meine Einfälle merkwürdig?«
    »Nein, mein Kleiner, sie sind überhaupt nicht merkwürdig. Sie sind ungewöhnlich und schön für einen kleinen jungen. Also halten Leute, denen selbst nie so etwas einfallen könnte, und wenn sie es hundertjahre lang versuchten, sie für merkwürdig. Aber lass dich nicht davon abbringen, Paul, eines Tages wirst du bestimmt noch ein Dichter.«
    Als Anne zu Hause ankam, wartete ein völlig anders gearteter Junge darauf, ins Bett gebracht zu werden. Davy schmollte. Als Anne ihn ausgezogen hatte, sprang er ins Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen.
    »Davy, du hast vergessen zu beten«, wies Anne ihn zurecht.
    »Nein, hab ich nicht vergessen«, sagte Davy trotzig, »ich bete nicht mehr. Ich strenge mich auch nicht mehr an, brav zu sein, weil du Paul Irving sowieso lieber magst, egal wie brav ich bin. Also kann ich mich genauso gut schlecht benehmen und hab wenigstens meinen Spaß.«
    »Ich mag Paul Irving nicht lieber«, sagte Anne ernst. »Ich habe dich genauso gern, nur auf eine andere Art.«
    »Aber ich will, dass du mich auf dieselbe Art gern hast«, sagte Davy schmollend.
    »Man kann verschiedene Menschen nicht auf dieselbe Art mögen. Du hast Dora und mich auch nicht auf dieselbe Art gern, nicht wahr?« Davy setzte sich auf und dachte nach.
    »N-n-nein«, gestand er schließlich. »Dora mag ich, weil sie meine Schwester ist, dich mag ich, weil du du bist.«
    »Ich mag Paul, weil er Paul ist, und Davy, weil er Davy ist«, sagte Anne vergnügt.
    »Hm, dann hätte ich wohl besser doch gebetet«, sagte Davy überzeugt von dieser Logik. »Aber es ist zu lästig, jetzt extra noch mal aufzustehen. Dafür bete ich morgen früh zweimal, Anne. Geht das nicht genauso gut?«
    Nein, Anne wusste entschieden, dass das nicht genauso gut ging. Also kroch Davy aus dem Bett und kniete sich neben sie hin. Nachdem er sein Gebet aufgesagt hatte, lehnte er sich auf seine bloßen braunen Fersen zurück und sah zu ihr hoch.
    »Anne, ich hab mich gebessert im Vergleich zu früher.«
    »Ja, das stimmt, Davy«, sagte Anne, die mit Lob nicht geizte, wenn ein Lob am Platze war.
    »Ich weiß es«, sagte Davy überzeugt, »ich sag dir auch, wieso. Heute hat Manila mir zwei Scheiben Brot mit Marmelade gegeben, eine für mich und eine für Dora. Die eine war viel größer. Marilla hat nicht gesagt, welche für mich ist. Also ich habe die größere Scheibe Dora gegeben. Das war doch gut von mir, nicht wahr?«
    »Sehr gut und sehr anständig, Davy.«
    »Klar«, gab Davy zu, »Dora hat keinen großen Hunger. Sie hat nur eine halbe Scheibe gegessen und mir den Rest gegeben. Aber das konnte ich ja vorher nicht wissen, also war es gut von mir, Anne.«
    In der Dämmerung schlenderte Anne an den Nymphenteich und sah Gilbert Blythe den finsteren Geisterwald

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