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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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verlangt. Erfahrung lehrt einen Vernunft. Auf dem College kann man das nicht lernen. Ihr habt vier Jahre lang das College besucht, ich nicht, aber ich weiß viel mehr als ihr, meine Damen. Außer toten Sprachen und Geometrie und so Sachen habt ihr nichts gelernt«, sagte Tante Jamesina.
    »O ja. Das denke ich aber doch, Tantchen«, wandte Anne ein. »Zum Beispiel haben wir gelernt, dass das, was Professor Woodleigh uns im letzten Wissenschaftskurs gesagt hat, wahr ist«, sagte Phil. »Er hat gesagt: >Humor gibt dem Leben erst Würze. Lachen Sie über Ihre Fehler, aber lernen Sie aus ihnen; scherzen Sie über Schwierigkeiten, aber schöpfen Sie Kraft daraus; machen Sie Späße über Probleme, aber meistern Sie sie!< Ist das etwa nicht lernenswert, Tante Jimsie?«
    »Doch, meine Liebe. Wenn ihr gelernt habt, nur über die lobenswerten Dinge zu lachen, dann seid ihr weise und verständig geworden.«
    »Was hast du am Redmond gelernt, Anne?«, murmelte Priscilla.
    »Ich denke«, sagte Anne bedächtig, »ich habe gelernt, jedes kleine Hindernis von der lustigen Seite und jedes große als ein Omen auf den Sieg zu sehen.«
    »Ich muss noch einmal Professor Woodleigh zitieren, um klarzumachen, was das Redmond mir gebracht hat«, sagte Priscilla. »Ihr erinnert euch doch, wie er in seiner Ansprache sagte: >Jedem von uns bietet die Welt so vieles, wenn wir nur Augen dafür haben, es zu sehen, ein Herz, um es zu lieben, und Hände, um es zu ergreifen - es gibt so vieles, das einen beglücken kann und wofür man dankbar sein sollte!« Das hat mir das Redmond in gewisser Weise auch vermittelt, Anne.«
    »Alles in allem heißt das«, bemerkte Tante Jamesina, »dass ihr in vier Jahren College - vorausgesetzt man hat genügend Grips - so viel lernt, wozu man im Leben zwanzig Jahre braucht. Das rechtfertigt meiner Ansicht nach eine höhere Schulbildung. Vorher war ich mir da nämlich nicht so sicher.«
    »Aber was ist mit denen, die nicht so viel Grips haben, Tante Jimsie?«
    »Die lernen eben nie dazu«, erwiderte Tante Jimsie, »auf dem College nicht und nicht im Leben. Und wenn sie hundertjahre alt werden, eigentlich wissen sie nicht viel mehr als bei ihrer Geburt.«
    »Kannst du mir bitte erklären, was du unter Grips versteht, Tante Jimsie?«, fragte Phil.
    »Nein, junge Frau. Jeder, der Grips hat, weiß es selbst, und wer keinen hat, wird es ohnehin nie kapieren. Also gibt es da nichts zu erklären.«
    Die randvoll ausgefüllten Tage vergingen wie im Fluge. Schließlich waren die Prüfungen geschafft. Anne wurde Beste in Englisch, Priscilla in Latein und Griechisch und Phil in Mathematik. Stella erzielte in allen Fächern einen guten Schnitt. Dann fand die Abschlussfeier statt.
    »Später einmal werde ich die Zeit als einen Lebensabschnitt bezeichnen«, sagte Anne, als sie Roys Veilchen aus der Schachtel nahm und sie nachdenklich betrachtete. Sie würde sie sich natürlich anstecken, aber ihre Blicke wanderten zu einer anderen Schachtel auf dem Tisch. Sie enthielt Maiglöckchen, die so frisch aussahen und dufteten wie die Anfang Juni im Garten von Green Gables. Daneben lag eine Karte von Gilbert Blythe.
    Anne wunderte sich, warum Gilbert ihr zum Abschlussfest Blumen schickte. Sie hatte ihn in letzter Zeit nur selten gesehen. Nur einmal freitagabends in den Weihnachtsferien war er da gewesen. Sie wusste, dass er viel lernte, weil er verschiedene Auszeichnungen einheimsen wollte, und dass er überhaupt nur selten etwas unternahm. Anne dagegen war oft unterwegs gewesen. Sie hatte des Öfteren die Gardners besucht, Dorothy und sie waren inzwischen gut befreundet. Die Kommilitonen rechneten damit, dass ihre Verlobung mit Roy bald ins Haus stand. Anne selbst auch. Doch kurz bevor sie von Pattys Haus zum Fest aufbrach, warf sie Roys Veilchen beiseite und steckte sich Gilberts Maiglöckchen an. Sie hatte nicht erklären können, warum. Irgendwie waren ihr die alten Avonlea-Zeiten und -Träume und -Freundschaften wichtiger, jetzt wo sie ihr lang ersehntes Ziel erreicht hatte. Gilbert und sie hatten sich einmal diesen Tag ausgemalt, an dem sie Mütze und Talar als Absolventen der Universität bekommen würden. Nun war der Tag da und Roys Veilchen hatten darin nichts verloren. Nur die Blumen ihres alten Freundes passten zu der Freude, dass die Träume wahr geworden waren. Jahrelang hatte dieser Tag ihr verlockend gewinkt. Aber als es so weit war, blieb ihr nicht unauslöschlich bleibend im Gedächtnis, wie sie mit angehaltenem Atem vom

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