Anne in Kingsport
Mädchen so kicherten.
Annes Augen hörten den ganzen Tag nicht mehr auf zu strahlen. In ihrem Kopf reiften literarische Einfälle. Voller Heiterkeit ging sie zu Jennie Coopers Party. Nicht einmal der Anblick von Gilbert und Christine, die direkt vor ihr und Roy hergingen, konnte ihre hochfliegenden Träume dämpfen. Dennoch war sie nicht den Dingen dieser Welt so weit entrückt, dass ihr nicht aufgefallen wäre, dass Christine einen entschieden ungraziösen Gang hatte.
»Aber Gilbert hat wohl nur Augen für ihr Aussehen. Typisch Mann«, dachte Anne verächtlich.
»Bist du am Samstagnachmittag zu Hause?«
»Ja.«
»Meine Mutter und meine Schwester würden dich gern besuchen«, sagte Roy ruhig.
Ein Schauer überlief Anne, aber nicht vor Freude. Sie kannte keinen von Roys Familie. Die Bedeutung seiner Frage war ihr sofort klar. Irgendwie hatte die Sache etwas Unwiderrufliches, das sie erschauern ließ.
»Ich freue mich auf sie«, sagte sie matt und fragte sich dann, ob es sie wirklich freute. Eigentlich müsste sie sich freuen, ja.
Aber war das nicht die Feuerprobe? Anne war zu Ohren gekommen, was die Gardners von der »großen Liebe« ihres Sohns und Bruders hielten.
Roy musste auf diesen Besuch gedrängt haben. Anne wusste, dass man sie unter die Lupe nehmen würde. Jetzt wo sie dem Besuch zugestimmt hatte, war ihr klar, dass man in ihr, ob gern oder nicht, ein mögliches Familienmitglied sah.
»Ich werde mich geben, wie ich bin. Ich werde mich nicht anstrengen, einen guten Eindruck zu machen«, dachte Anne stolz. Immerhin überlegte sie, welches Kleid sie am Samstag anziehen sollte und ob ihre neue Frisur ihr besser stand als die alte. Und die Party war ihr auch einigermaßen verdorben. Am späten Abend endlich hatte sie sich entschieden, dass sie ihr braunes Chiffonkleid anziehen und die Haare lose gekämmt tragen würde.
Am Freitagnachmittag hatten alle Mädchen frei. Stella nutzte die Gelegenheit und schrieb einen Beitrag für den Wissenschafts-Verein. Sie saß am Tisch in der Ecke vor einem unordentlichen Haufen von Notizen und Blättern, die auf dem Fußboden verstreut lagen. Anne, die ihre Flanellbluse und den Segelrock anhatte und deren Haare auf dem Nachhauseweg ziemlich vom Wind zerzaust worden waren, hatte sich mitten auf dem Fußboden niedergelassen und spielte mit Katze Sarah mit einem Wunschknochen. Joseph und Rusty lagen zusammengerollt in ihrem Schoß. Ein herrlicher Pflaumenduft erfüllte das Haus, denn Priscilla war in der Küche und kochte etwas. Jetzt kam sie in einer großen Arbeitsschürze und mit einem Fleck auf der Nase ins Zimmer und wollte Tante Jamesina den Schokoladenkuchen zeigen, den sie gerade mit Guss überzogen hatte.
Da ertönte der Türklopfer. Nur Phil fühlte sich angesprochen. Sie sprang auf, öffnete die Tür und erwartete einen Laufburschen mit dem Hut, den sie sich am Vormittag gekauft hatte, in der Tür aber standen Mrs Gardner und ihre Töchter.
Anne rappelte sich irgendwie hoch, verscheuchte zwei empörte Katzen von ihrem Schoß und schob automatisch den Wunschknochen von der rechten in die linke Hand. Priscilla, die quer durchs Zimmer hätte gehen müssen, um in die Küche zu gelangen, war ganz aufgelöst, schob den Schokoladenkuchen wie wild unter ein Kissen auf dem Sofa am Kamin und stürzte die Treppe hinauf. Stella begann fieberhaft ihre Blätter zusammenzusammeln. Nur Tante Jamesina und Phil behielten die Fassung. Dank ihrer Unterstützung hatten bald alle bequem Platz genommen, auch Anne. Priscilla kam ohne Schürze und Fleck auf der Nase wieder nach unten, Stella hatte die Ecke ordentlich aufgeräumt und Phil rettete die ganze Situation, indem sie die Gardners gleich in ein Gespräch verwickelte.
Mrs Gardner war groß, schlank und hübsch, elegant gekleidet und versprühte eine Herzlichkeit, die etwas aufgesetzt wirkte. Aline Gardner war die jüngere Ausgabe ihrer Mutter, nur fehlte ihr Herzlichkeit. Sie bemühte sich, nett zu sein, wirkte aber nur arrogant und herablassend. Dorothy Gardner war schlank, lustig und sehr ausgelassen. Anne wusste, dass sie Roys Lieblingsschwester war und die beiden sich gut verstanden. Sie hatte große Ähnlichkeit mit Roy, nur dass sie schelmische haselnussbraune Augen und nicht wie Roy verträumte dunkle Augen hatte. Dank ihr und Phil ging der Besuch gut über die Bühne, einmal abgesehen von der leicht gespannten Atmosphäre und zwei ziemlich unschönen Zwischenfällen. Rusty und Joseph, um die sich nun niemand mehr
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