Anne in Kingsport
von den Geschichten lesen.«
»So, und hier ist mein Meisterwerk. Man beachte den schönen Titel - Alle meine Gräber. Beim Schreiben habe ich geheult wie ein Schlosshund, und die anderen erst, als ich ihnen die Geschichte vorgelesen habe! Jane Andrews bekam von ihrer Mutter fürchterliche Schimpfe, weil sie so viele Taschentücher verbraucht hat. Es ist eine herzzerreißende Geschichte von der Frau eines Methodistenpfarrers. In jedem Ort, in dem sie gelebt hat, hat sie ein Kind zu Grabe getragen. Insgesamt waren es neun Kinder, und sie lagen an weit voneinander entfernten Orten begraben, es reicht von Neufundland bis Vancouver. Ich habe die Kinder geschildert und genau beschrieben, wie die Grabsteine aussehen und was sie für Inschriften haben. Erst wollte ich alle neun sterben lassen, aber nach dem achten war ich mit meinen grauslichen Einfällen am Ende, also ließ ich das neunte leben.«
Stella überflog die Geschichte und las lachend besonders tragische Stellen vor. Rusty, der die ganze Nacht umhergestreunt war, lag zusammengerollt auf einer Geschichte von Jane Andrews und schlief. Währenddessen überflog Anne andere Geschichten und dachte an die alten Zeiten an der Schule von Avonlea, als sie ihre Geschichten unter den Fichten oder im Farn am Bach sitzend geschrieben hatten. Was hatten sie Spaß gehabt! Die ganze Fröhlichkeit jener Sommer fiel ihr beim Lesen wieder ein.
»Ich probiere es doch noch mal«, sagte sie entschlossen.
36 - Der Besuch der Gardners
»Ein Brief für dich aus Indien, Tante Jimsie«, sagte Phil. »Und hier sind drei für Stella, zwei für Pris und ein phantastisch dicker für mich von Jo. Für dich ist keiner dabei, Anne, nur Reklame.«
Niemand bemerkte, dass Anne rot wurde, als sie den dünnen Brief nahm, den Phil ihr lässig hinschob. Aber als Phil ein paar Minuten später aufsah, erblickte sie eine völlig verwandelte Anne.
»Was gibt es denn Tolles?«
»Der Freund derJugend hat die kleine Geschichte von mir angenommen, die ich vor zwei Wochen eingeschickt habe«, sagte Anne und gab sich alle Mühe, ihre Stimme so klingen zu lassen, als wäre es das Normalste von der Welt, dass ihre Geschichten im ersten Anlauf angenommen wurden. Es glückte ihr aber nicht so ganz.
»Anne Shirley! Wie wunderbar! Wovon handelt sie? Wann wird sie veröffentlicht? Hast du Geld dafür bekommen?«
»Ja, ein Scheck über zehn Dollar liegt bei und der Lektor schreibt, dass er sich gern noch mehr Arbeiten von mir ansehen würde. Mein lieber Mann, das kann er! Es war eine von den alten Geschichten. Ich habe sie überarbeitet - aber im Traum hätte ich nicht gedacht, dass sie angenommen würde, wo die Geschichte doch keinen guten Aufhänger hat«, sagte Anne und dachte an die bittere Erfahrung mit Averils Versöhnung.
»Was hast du denn mit den zehn Dollar vor, Anne? Sollen wir nicht alle in die Stadt gehen und es kräftig feiern?«, schlug Phil vor.
»Ich werde mir einen rauschenden Abend machen und das Geld auf den Kopf hauen«, verkündete Anne fröhlich. »Schließlich ist es anständig verdientes Geld - nicht wie damals für die schreckliche Backpulver-Geschichte. Damals habe ich das Geld sinnvoll in Kleidern angelegt, die allerdings scheußlich waren.«
»Da haben wir eine leibhaftige Autorin unter uns!«, sagte Priscilla.
»Das bedeutet aber eine große Verantwortung«, sagte Tante Jamesina ernst.
»Allerdings«, stimmte Phil ihr gleichermaßen ernst zu. »Autorinnen sind wie junge Kälber. Man weiß nie, was sie aushecken. Zum Beispiel könnte Anne uns in ihre Geschichten aufnehmen.«
»Ich habe gemeint, dass es eine große Verantwortung bedeutet, für eine Zeitung zu schreiben«, sagte Tante Jamesina scharf. »Bleibt nur zu hoffen, dass Anne ihr gerecht wird. Meine Tochter hat auch Geschichten geschrieben, bevor sie in die Fremdenmission gegangen ist, aber jetzt widmet sie sich höheren Dingen. Ihr Motto war immer: »Schreib nie auch nur eine Zeile, der du dich noch im Grabe schämen müsstest.« Daran solltest du dich auch halten, Anne, wenn du dich denn der Literatur verschreibst. Obwohl«, fügte Tante Jamesina verdutzt hinzu, »Elizabeth bei dem Ausspruch immer lachen musste. Sie war sowieso immer ein fröhlicher Mensch, so-dass ich mir gar nicht erklären konnte, wieso sie ausgerechnet in die Mission gegangen ist. Es freut mich zwar - ich habe sogar darum gebetet -, aber ... ich wünschte, sie hätte es sich anders überlegt.«
Dann wunderte sich Tante Jamesina, warum die
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