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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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würdevollen Präsidenten des Redmond Mütze und Diplom erhielt und er ihr als frisch gebackene Absolventin gratulierte. Es war auch nicht das Leuchten in Gilberts Augen, als er die Maiglöckchen sah, auch nicht der verwirrte, gequälte Blick, den Roy ihr zuwarf, als er vorn auf der Bühne an ihr vorbeiging. Es waren nicht Aline Gardners herablassende Glückwünsche und nicht Dorothys spontane guten Wünsche. Es war ein seltsamer, unerklärlicher Stich, der ihr diesen lang ersehnten Tag verdarb und ihm einen leichten, aber anhaltenden Beigeschmack von Bitterkeit verlieh.
    Die Absolventen führten abends einen Tanz auf. Als Anne sich dafür anzog, legte sie die Perlenkette, die sie sonst trug, zur Seite und nahm aus ihrem Koffer die kleine Schachtel, die Weihnachten für sie auf Green Gables angekommen war. In der Schachtel lag eine feine Goldkette mit einem kleinen roten, herzförmigen Anhänger aus Email. Auf der beiliegenden Karte stand: »Mit den besten Wünschen von deinem alten Freund Gilbert.« Anne musste lachen bei der Erinnerung, die das Emailherz an jenen verhängnisvollen Tag heraufbeschwor, als Gilbert sie »Rotschopf« genannt und vergebens versucht hatte, mit einem roten Zuckerherz alles wieder gutzumachen. Sie hatte ihm einen netten kleinen Dankesbrief geschrieben. Aber sie hatte die Kette nie getragen. Heute Abend legte sie sie sich mit einem verträumten Lächeln an.
    Phil und sie gingen zusammen zum Redmond. Anne schwieg. Phil plauderte über dies und jenes. Plötzlich sagte sie: »Angeblich soll gleich nach dem Abschlussfest Gilberts Verlobung mit Christine Stuart bekannt gegeben werden. Hast du auch davon gehört?«
    »Nein«, sagte Anne.
    »Aber es wird schon stimmen«, sagte Phil leichthin.
    Anne sagte nichts. Es war dunkel, sie spürte, wie ihr Gesicht glühte. Sie fuhr mit der Hand unter den Kragen und tastete nach der alten Goldkette. Ein energischer Ruck, und sie war entzwei. Anne steckte die kaputte Kette in die Tasche. Ihre Hände zitterten und ihre Augen brannten.
    Aber an dem Abend war sie die Fröhlichste von allen. Als Gilbert sie um einen Tanz bat, sagte sie, sie wäre schon ausgebucht. Als sie hinterher vor dem ausgehenden Feuer saßen, erzählte keiner so munter wie sie von den Ereignissen des Tages.
    »Moody Spurgeon MacPherson«, hat nach dir gefragt, als du schon fort warst«, sagte Tante Jamesina, die aufgeblieben war, um das Feuer in Gang zu halten. »Er wusste nichts von dem Tanz. Der Junge sollte mit einem Gummiband um die Ohren schlafen, damit seine Ohren nicht mehr so abstehen. Ich hatte einmal einen Freund, der es auch immer so gemacht hat, und die Sache mit den Ohren hat sich enorm gebessert. Es war mein Vorschlag, und er hat den Rat angenommen, aber verziehen hat er es mir nie.«
    »Moody Spurgeon ist immer so ernst«, gähnte Priscilla. »Aber schließlich muss er sich auch um ernstere Angelegenheiten kümmern als seine Ohren. Er will nämlich Pfarrer werden.«
    »Naja, Gott schaut wohl nicht auf die Ohren«, sagte Tante Jamesina ernst und unterließ jede weitere Kritik an Moody Spurgeon. Tante Jamesina hatte beträchtlichen Respekt vor der Geistlichkeit, auch vor einem noch nicht fertigen Pfarrer.

38 - Trügerisches Erwachen
    »Stellt euch vor - heute in einer Woche bin ich wieder in Avonlea - herrlich!«, sagte Anne und beugte sich über die Kiste, in der sie Mrs Rachel Lyndes Flickendecken verstaute. »Aber - heute in einer Woche werde ich auch für immer Pattys Haus verlassen - wie entsetzlich!«
    Miss Patty und Miss Maria würden nach Hause zurückkehren, nachdem sie an fast allen Ecken und Enden der Erde gewesen waren.
    »Wir kommen in der zweiten Maiwoche zurück«, schrieb Miss Patty. »Pattys Haus wird uns nach den Sälen des Tempels von Karnak zwar ziemlich klein Vorkommen, aber ich wollte noch nie in einem riesengroßen Haus wohnen. Ich freue mich sehr auf zu Hause. Wenn man in späten Jahren das Reisen anfängt, dann sucht man viele Orte nur deshalb auf, weil man weiß, dass einem nicht mehr viel Zeit bleibt. Aber man kommt doch auf den Geschmack. Ich fürchte, Maria wird sich gar nicht mehr mit dem Leben zu Hause abfinden können.«
    »Ich lasse ein bisschen von meiner Phantasie und meinen Träumen für sie da«, sagte Anne und sah sich wehmütig im blauen Zimmer um - ihrem schönen Zimmer, in dem sie drei glückliche Jahre verlebt hatte. Sie hatte am Fenster gekniet und gebetet und sich herausgebeugt, um den Sonnenuntergang hinter den Kiefern zu

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