Anne Rice - Pandora
meinte. Ich führte ihn in das Heiligtum, wo die Mutter und der Vater unverändert saßen, und schloss die steinernen Türen hinter mir.
Ich zog Marius hinter den Thron des königlichen Paares.
»Sie können vermutlich den Herzschlag der beiden hö-
ren«, flüsterte ich gerade noch vernehmbar. »Aber über das Geräusch hinweg werden sie uns wahrscheinlich nicht sprechen hören. Also, wir werden sie töten müssen, sofort, wir werden sie vollständig vernichten müssen.«
Marius war verblüfft.
»Hör mir zu, du weißt, dass es nicht anders geht!«, sagte ich. »Du musst sie töten und jeden, der so ist wie sie und uns nahe kommt. Warum bist du so entsetzt?
Raff dich auf. Am einfachsten ist es, wenn wir sie erst in Stücke schneiden und dann verbrennen.«
»Ach, Pandora«, seufzte er.
»Marius, warum windest du dich so?«
»Ich winde mich nicht«, entgegnete er. »Ich weiß aber, dass mich eine solche Tat unwiderruflich verändern wird.
Zu töten, wenn ich dürste, zu töten, um mein Leben, um das der beiden hier zu bewahren, die irgendjemand bewahren muss, das habe ich schon so lange gemacht.
Doch nun soll ich zum Scharfrichter werden? Soll wie die Kaiser handeln, die die Christen verbrennen? Einen Krieg gegen diese Rasse führen, gegen diesen Orden, diesen Kult, wie man es auch nennen mag? Auf diese Stufe soll ich mich begeben?«
»Wir haben keine Wahl, komm schon. In dem Gewölbe, in dem wir schlafen, hängen einige Schwerter als Deko-ration. Wir sollten die gewaltigen Krummschwerter nehmen. Und die Fackel. Wir gehen zu ihnen und sagen ihnen, wie Leid es uns tut, was geschehen muss, und dann tun wir es!«
Er antwortete nicht.
»Marius, willst du sie etwa ziehen lassen, damit dann andere hinter uns her sind? Sicherheit liegt einzig und allein darin, dass wir jeden Bluttrinker vernichten, der uns und das königliche Paar aufspürt.«
Er entfernte sich ein paar Schritte von mir und stellte sich vor die Mutter. Er blickte ihr in die Augen. Ich wusste, dass er stumm zu ihr sprach. Und ich wusste, dass sie ihm nicht antwortete.
»Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagte ich, »und die ist sehr real.« Ich winkte ihm, wieder zurückzukommen hinter das Paar, wo ich mich bei dieser Verschwörung am sichersten fühlte.
»Was meinst du?«, fragte er.
»Gib den König und die Königin in ihre Hände. Und du und ich, wir sind frei. Sie werden für die beiden mit religiösem Eifer sorgen! Vielleicht erlauben der König und die Königin ihnen sogar, von ihnen zu trinken –«
»Das kommt nicht in Frage!«, sagte er.
»Genauso empfinde ich auch. Wir würden niemals sicher sein. Und sie würden sich ungehemmt über die Erde ausbreiten wie übernatürliche Schädlinge. Hast du einen dritten Plan?«
»Nein, aber ich bin bereit. Wir benutzen beides, Feuer und Schwert. Kannst du ihnen ein paar verlockende Lü-
gen auftischen, wenn wir uns ihnen mit Waffen und Fak-keln nähern?«
»O ja, sicher«, sagte ich.
Wir gingen in das Gewölbe und nahmen die großen, ungemein scharfen Schwerter an uns, die aus der arabi-schen Wüste ihren Weg hierher gefunden hatten. An der Fackel am Fuß der Treppe entzündeten wir eine zweite und nahmen sie mit nach oben.
»Kommt her, Kinder«, rief ich laut, als ich den Raum betrat. »Kommt, denn was ich euch zu enthüllen habe, muss beim Licht der Fackeln geschehen, und welchem heiligen Zweck diese Schwerter dienen, werdet ihr auch bald erkennen. Wie fromm ihr seid!«
Wir standen vor ihnen.
»Und wie jung ihr noch seid!«, sagte ich.
Plötzlich drängten sie sich in Panik zusammen. Dadurch machten sie es uns leichter. Unsere Aufgabe war in wenigen Augenblicken erfüllt; wir setzten ihre Gewänder in Flammen, hackten ihnen die Glieder ab, ohne ihre Mitleid erregenden Schreie zu beachten.
Nie zuvor hatte ich meinen ganzen Willen, meine ganze Kraft und Schnelligkeit derart eingesetzt wie jetzt gegen diese Bluttrinker. Es war berauschend, sie aufzuschlitzen, die Fackel an sie zu halten, sie aufzuschlitzen, bis sie niedersanken und ihr Leben aushauchten. Allerdings wollte ich auch nicht, dass sie leiden mussten.
Weil sie jung waren, so besonders jung als Bluttrinker, dauerte es sehr lange, ihre Knochen zu verbrennen, zuzusehen, bis nur noch Asche übrig war.
Doch endlich war es getan, und wir standen mit rußbe-fleckten Kleidern im Garten beisammen, Marius und ich, und starrten auf das rauchende Gras, um uns mit eigenen Augen zu versichern, dass der Wind die Asche in alle
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