Anne Rice - Pandora
und als wir auf-blickten, standen die sechs dort, drei Frauen, zwei Männer und ein Knabe, alle in schwarze Gewänder gehüllt.
Sie waren wie christliche Einsiedler oder Asketen gekleidet, die alles Fleischliche verleugnen und dauernd fa-sten. Von denen gab es viele in der Wüste rings um Antiochia.
Aber diese hier waren Bluttrinker.
Dunkelhäutig, mit dunklen Haaren und Augen, so standen sie vor uns, die Arme über der Brust verschränkt.
Dunkelhäutig, dachte ich blitzartig. Sie sind jung! Sie waren erst nach dem großen Brand gemacht worden.
Was bedeutete es dann schon, dass sie zu sechst waren?
Insgesamt waren ihre Gesichter recht ansprechend, gut geschnitten und mit sehr dunklen Augen unter fein gezogenen Brauen, und überall erkannte man die Zeichen ihrer lebendigen Körperlichkeit – winzige Augenfältchen, Linien an den Fingergelenken.
Sie schienen von unserem Anblick ebenso schockiert wie wir von ihrem. Verwundert betrachteten sie die hell erleuchtete Bibliothek, starrten unsere kostbare Kleidung an, die in großem Kontrast zu ihren asketischen Gewändern stand.
»Nun«, sagte Marius, »wer seid ihr?«
Während ich meine eigenen Gedanken verbarg, versuchte ich in die ihren einzudringen. Ihr Geist war mir verschlossen. Sie hatten sich einer Sache fest verschrieben. Das roch gewaltig nach Fanatismus. Eine grässliche Vorahnung überkam mich.
Zaghaft machten sie Anstalten, durch die offene Tür he-reinzukommen.
»Nein, bitte nicht«, sagte Marius auf Griechisch. »Dies ist mein Haus. Sagt mir zuerst, wer ihr seid, dann werde ich euch vielleicht einladen, über meine Schwelle zu treten.«
»Ihr seid Christen, nicht wahr?«, fragte ich. »Ihr habt einen heiligen Auftrag.«
»Ja«, antwortete der eine Mann, ebenfalls auf Griechisch. »Wir sind die Geißel der Menschheit im Namen Gottes und seines Sohnes Christus. Wir sind die Kinder der Finsternis.«
»Wer hat euch gemacht?«, fragte Marius.
»Es geschah in einer heiligen Höhle oder in unserem Tempel«, sagte eine der Frauen, auch auf Griechisch.
»Wir kennen die wahre Natur der Schlange, und ihre Fangzähne sind unsere Fangzähne.«
Ich erhob mich aus meinem Stuhl und begab mich zu Marius.
»Wir hätten euch in Rom vermutet«, sagte der Mann.
Er trug die schwarzen Haare kurz und schaute uns aus runden, unschuldigen Augen an. »Weil der Bischof von Rom nun der Höchste unter den Christen ist und die Theologie von Antiochia nicht mehr so wichtig ist.«
»Warum sollten wir in Rom sein?«, fragte Marius. »Was bedeutet uns der römische Bischof?«
Eine Frau trat vor. Ihr Haar war streng in der Mitte gescheitelt, doch ihr gleichmäßig geschnittenes Gesicht trug einen hoheitsvollen Ausdruck. Besonders ihre Lippen waren wunderschön geformt.
»Warum verbergt ihr euch vor uns? Wir haben schon über lange Jahre von euch gehört! Wir wissen, dass ihr Kenntnisse habt – über uns und darüber, woher die Dunkle Gabe kommt. Ihr wisst angeblich, wie Gott sie in die Welt brachte, und ihr sollt unsere Art vor der Vernichtung bewahrt haben.«
Marius war ganz einfach entsetzt, doch er zeigte es kaum.
»Ich habe euch nichts zu sagen«, antwortete er, vielleicht ein wenig zu überstürzt. »Außer dass ich nicht an euren Gott oder euren Christus glaube, und ich glaube auch nicht, dass Gott die Dunkle Gabe, wie ihr das nennt, in die Welt gebracht hat. Ihr irrt euch da ganz gewaltig.«
Sie zeigten sich sehr skeptisch und äußerst engagiert.
»Ihr seid der Erlösung schon so nahe«, schaltete sich nun der Jüngling ein, der als Letzter in der Reihe stand.
Ihm fiel das Haar lang und ungeschnitten auf die Schultern. Er hatte eine männliche Stimme, doch sein Körper wirkte noch unfertig. »Ihr habt schon fast den Punkt erreicht, wo ihr so stark und weiß und rein seid, dass ihr nicht mehr trinken müsst!«
»Wäre das nur wahr; aber es ist nicht so«, sagte Marius.
»Warum heißt ihr uns nicht willkommen?«, fragte der Jüngling. »Warum wollt ihr uns nicht leiten und lehren, damit wir das Dunkle Blut besser verbreiten und die Sterblichen für ihre Sünden bestrafen können? Wir sind reinen Herzens. Wir sind auserwählt. Jeder von uns ging mutig in die Höhle, und der sterbende Teufel dort, eine zerschmetterte Kreatur aus Blut und Knochen, in einem Feuerblitz aus dem Himmel geschleudert, gab seine Lehren an uns weiter.«
»Und wie lauteten die?«, fragte Marius.
»Lass sie leiden«, sagte die Frau. »Bring ihnen den Tod. Meide alles Weltliche wie die
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