Blut muss fließen
VORWORT
Dieses Buch ist der Abschlussbericht einer rund 15-jährigen Recherche in der Neonazi-Szene. Knapp neun Jahre davon war ich mit versteckten Kameras unterwegs. Unter taktischen und handwerklichen Aspekten hätte ich diese Recherche noch mehrere Jahre fortsetzen können, aber das mangelnde Medieninteresse an meinen Arbeitsergebnissen hat mich gezwungen, aus finanziellen Gründen aufzuhören.
Dieses berufliche Großprojekt hat mich in neun europäische Länder geführt. Ich habe erlebt, wie sich die neonazistische Jugendkultur international ausbreitet: in Deutschland, Österreich, Italien, Ungarn, Polen, Frankreich, Belgien, England und der Schweiz. Mein Schwerpunktgebiet war die konspirativ organisierte Rechtsrockszene. Von dort aus bin ich den Nationalisten und Rassisten in das Black-Metal-, Hooligan- und Rockermilieu gefolgt. Und ich habe mir die Geschäftsstrukturen angeschaut, die aus der CD-Produktion heraus entstanden sind. Außerdem war ich in der politischen Grauzone unterwegs. Meine statistische Bilanz: rund 90 Undercover-Drehs, darunter knapp 50 Neonazi-Konzerte, von denen ungefähr 30 konspirativ organisiert waren. Hinzu kamen ungezählte Veranstaltungsbesuche ohne Kamera-Ausrüstung.
Es ergibt sich aus meiner Recherchemethode, dass ich Beobachtungen und Erkenntnisse schildern kann, die kein anderer Journalist und offensichtlich auch kein staatlicher Ermittler gewonnen hat. Dieses Buch bietet Informationen, die in keinem Verfassungsschutzbericht und in keiner ministerialen Lagebeschreibung stehen. Ich berichtete über meine Ergebnisse im Gesamtzusammenhang und vergleiche sie mit Darstellungen der Sicherheitsbehörden. Ich habe erlebt und beobachtet, wie »die Politik«, »der Verfassungsschutz«, »die Polizei« und obendrein »die Medien« im Umgang mit der Neo | 7 | nazi-Bedrohung versagt haben – in einem Ausmaß, das ich vor meinen Recherchen nicht einmal ansatzweise für möglich gehalten hätte. Meine Überraschung darüber ist zwar inzwischen verflogen, aber das Entsetzen ist geblieben.
Folgende Feststellung ist mir allerdings wichtig: In allen Bereichen, in denen ich katastrophale Fehlleistungen aufzeige, gibt es auch Leute, die eine gute bis exzellente Arbeit machen! Einige von ihnen habe ich kennengelernt. Sie kritisieren die mangelhaften Strukturen und Handlungsbilanzen der »Apparate« in ähnlicher Weise wie ich in diesem Buch, im Unterschied zu mir aber normalerweise nicht öffentlich.
Was die journalistische Arbeit betrifft, so halte ich es für das wichtigste Ziel, die Realität so originalgetreu wie irgend möglich darzustellen. In konspirativen Strukturen der Neonazi-Szene ist das in offizieller Mission nicht möglich. Berichterstatter bekommen keinen Zutritt – und wenn im Einzelfall doch, dann präsentieren ihnen die Kader kein authentisches Bild von der Wirklichkeit. Um unzensierte Einblicke zu gewinnen, blieb mir nichts anders übrig, als mich in die Bewegung einzuschleusen.
Dem ersten Dreh mit Spionagetechnik sind fast sechs Recherchejahre vorausgegangen. Eine neonazistische Skinhead-Party nahe meiner Wohnsiedlung hatte im Jahr 1997 mein Interesse an der Szene geweckt. Einige Wochen später lernte ich zufällig einen »Nazi-Jäger« kennen, der ein Keller und Büro füllendes Archiv aufgebaut hatte. Er vermittelte mir Grundlagenwissen, kopierte mir Skin-Zines, wie die Szenehefte heißen, und schickte mir erste Hinweise auf konspirativ organisierte Veranstaltungen.
»Nationale Info-Telefone« bildeten mein erstes Informationsmedium. Es handelte sich um Anrufbeantworter, die mit Nachrichten für die Szene besprochen wurden. Zwei Jahre lang habe ich regelmäßig die entsprechenden Nummern angewählt und eine Art Tagebuch geführt, in das ich alle Informationen notiert habe, die mir wichtig erschienen. Auf diese Weise erfuhr ich die Termine von Feiern, Hüttenwochenenden, nationalen Fußballturnieren, Rechtsschulungen, Demonstrationen, Mahnwachen und Konzerten – aber auch von Hausdurchsuchungen, polizeilichen Anwerbeversuchen in | 8 | der Szene (um V-Leute zu gewinnen) und Kontenbeschlagnahmungen. Die Nummern der Kontakt-Handys für Veranstaltungen habe ich in einer Liste erfasst, die alsbald mehrere Seiten lang war.
Besonders ergiebig waren das Nationale Infotelefon Karlsruhe und das Nationale Infotelefon Schweiz. Sie informierten regelmäßig über Rechtsrockkonzerte. Die nationalistischen Badener hatten abseits der Informationen sogar einen gewissen
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