Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
zu basteln, saß er in seinem Aquarium auf dem Wissen für einen Superscoop. Natürlich war ihm in den Sinn gekommen, auf die eindringliche Bitte des Justizministeriums um Diskretion und Zurückhaltung zu pfeifen und die Story von der verschwundenen EU -Delegation trotzdem zu bringen, aber er hatte aus seiner Zeit beim staatlichen Fernsehen ein gerüttelt Maß an Ethik mitgenommen, das ihn letztlich davon abhielt. Und in gewissem Maß auch der Gedanke an Annika. Die Verschwörungstheorien der Bloggerwelt, wie die Medien ihre eigenen Leute schützten, waren extrem übertrieben, eigentlich war es sogar genau umgekehrt (man war krankhaft an den eigenen Leuten interessiert und berichtete konsequent im Übermaß über alles, was andere Journalisten sagten und taten), aber ein Rest normaler Mitmenschlichkeit war ihm noch geblieben. Bisher waren nur die engsten Angehörigen über den Vorfall informiert, und darunter waren keine Journalisten, wie ihm versichert worden war.
Die Frage war nur, welche Auswirkungen diese Sache auf Annika und auf seine Pläne mit ihr haben würde.
Er stand auf und trat an die Glastür, die Scheibe beschlug von seinem Atem.
Eine neue Zeit war angebrochen. Heutzutage gab es bei der Zeitung keinen Platz mehr für tiefgründige Enthüllungsjournalisten. Sie brauchten schnelle Multimediaproduzenten, die einen Fernsehbeitrag machen, ein kurzes Update im Netz schreiben und nebenbei vielleicht noch einen Artikel für die Abendausgabe zusammenbasteln konnten. Annika gehörte einer aussterbenden Spezies an, zumindest beim Abendblatt . Sie hatten nicht die Mittel, um komplizierte Rechtsstreitigkeiten zu untersuchen oder über zwielichtige kriminelle Banden zu berichten – was Annika am liebsten tat. Er wusste, dass sie es als Strafbefehl ansah, Patriks reißerische Schlagzeilen mit Stoff zu füllen, aber er konnte nicht ewig einen Unterschied zwischen ihr und allen anderen machen. Er konnte es sich auch nicht leisten, sie für immer in Washington zu lassen, genauso wenig wie er jedes Mal Patrik an den Pranger stellen konnte, wenn er mit einer verrückten Idee ankam. Das Abendblatt war nach wie vor die zweitgrößte Zeitung Schwedens, und wenn sie jemals den Konkurrenten überholen wollten, mussten sie anfangen, größer, breiter und dreister zu denken.
Tatsache war, dass er Patrik mehr brauchte als Annika.
Er wandte sich von der Glastür ab und drehte rastlos eine Runde in seinem kleinen Büro.
Sie hatte als Korrespondentin eigentlich keinen schlechten Job gemacht, ganz im Gegenteil. Den Mord am schwedischen Botschafter in den USA vor gut einem Jahr hatte sie beispielsweise außerordentlich gut im Griff gehabt. Daran bestand kein Zweifel.
Dass sie sich mit ihrem Mann versöhnt hatte, war ihr gut bekommen. Ein Quell der Lebensfreude und Unterhaltsamkeit war sie ohnehin nie gewesen, aber das Jahr, in dem sie und Thomas getrennt gelebt hatten, war für niemanden in ihrer Umgebung ein Spaß.
Schyman wagte nicht, daran zu denken, was passieren würde, wenn ihrem Mann etwas zustieß. Ihm war klar, dass seine Gedanken kalt, ja nahezu eiskalt waren, aber das Abendblatt war nun mal kein Erholungsheim. Sollte Thomas nicht zurückkommen, würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als ihr eine saftige Abfindung zu zahlen und alles Weitere dem psychiatrischen Krisendienst und ihrem sozialen Umfeld zu überlassen.
Der Chefredakteur seufzte noch einmal.
Alien Hand Syndrome.
Ja, gütiger Himmel.
*
»Wann kommt Papa nach Hause?«
Sie haben einen sechsten Sinn, dachte Annika und strich ihrer Tochter übers Haar. Wie konnte es sein, dass etwas so Weiches und Zartes andauernd von Läusen heimgesucht wurde?
»Er arbeitet in Afrika, das weißt du doch«, sagte sie und packte das Mädchen in die Decke ein.
»Ja, aber wann kommt er wieder?«
»Am Montag«, kam es genervt aus Kalles Bett. »Du kannst dir aber auch gar nichts merken.«
Als Annika die Wohnung mit den Kindern allein bewohnte, hatten Ellen und Kalle jeder ein eigenes Zimmer gehabt. Annika hatte im Wohnzimmer geschlafen. Nach Thomas’ Rückkehr ging das nicht mehr. Kalle musste in Ellens Zimmer umziehen und betrachtete das als eine persönliche Beleidigung.
Sie schaute hinüber zum Bett des Jungen.
Sollte sie es ihnen sagen? Was sollte sie sagen? Die Wahrheit? Ein bisschen positiv eingefärbt: Papa ist in Afrika verschwunden und kommt am Montag wahrscheinlich nicht nach Hause. Vielleicht kommt er auch gar nicht mehr nach Hause, dann kannst
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