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Sagen und Märchen Altindiens

Titel: Sagen und Märchen Altindiens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alois Essigmann
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Meine liebe, stille Mutter!
    Als du vor drei Jahrzehnten Deinen Kindern Märchen vorlasest, waren sie alle erstaunt: Du konntest Deine sanfte Stimme zur Härte zwingen, wenn Du als Harun al Raschid den bösen Kalum-Bek verurteiltest. – Nie hätten sie solches von Dir erwartet.
    Wie recht tatest Du, keinerlei Pathos an diese flache Tatsachenwelt zu verschwenden, Maß zu halten in allem, was sich messen läßt, und dafür in der Unendlichkeit der Phantasie zu schwelgen!
    Wenn ich diese Arbeit Deinem Andenken weihe, so dankt der Mann seiner Kindheit. Das gärende Werden, das zwischen Anfang und Reife liegt, lag auch zwischen Mutter und Sohn, wie die Jugend zwischen Kind und Mann.
    Es ist vorbei! Alle Irrwege haben sich zum sicheren Pfad vereinigt.
    Nimm hier die erste Frucht, die ich an diesem Wege zum Glück gepflückt habe. Du bist ja noch unter uns, als wärest Du am Leben!
    Dein dankschuldiger Sohn
Alois Essigmann
Vorwort
    Diese Sagen und Märchen sind nicht nur Tausende von Jahren alt, sie sind auch im Laufe vieler Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende, entstanden, lange Zeit nur mündlich überliefert und auch nach der Niederschrift noch durch Jahrhunderte hindurch geändert, erweitert, den Sitten und Gebräuchen der Zeit, sowie dem Geschmack der jeweiligen Dichter angepaßt worden.
    So erklärt sich mancher Widerspruch in der Auffassung und Verehrung von Göttern und Helden, in Landesbräuchen usw.
    Zu merken wäre, daß die ältesten Inder ein sehr kriegerisches Volk waren und leibhaftige Naturkräfte als Gottheiten verehrten (Indra, Varuna, Agni usw.). Später aber riß der Priesterstand die Herrschaft an sich, die Naturgötter mußten sich den erdachten Repräsentanten der sittlichen Ordnung (Brahma, Wischnu, Dharma usw.) und Könige, Krieger und Volk ihren Priestern, den Brahmanen, beugen.
    Mit dem der Allgemeinheit geläufigen Buchstabenmaterial ist es nicht möglich, ein vollkommen klangtreues Lautbild der altindischen Namen und Worte zu geben. Ich habe mich deshalb mit einer Annäherung begnügt und möchte nur noch bemerken, daß bei der von mir gewählten Schreibweise das Sch, sch im Anlaut weich gesprochen wird. Die letzte Silbe der Frauennamen ist lang.
    Im Anhang habe ich ein alphabetisches Namensverzeichnis angefügt, welches manchen durch die vielen Namen vielleicht verwirrten Leser rasch über die Beziehung einzelner Personen zur Erzählung orientieren mag.
Im Weltalter der Götter

Schöpfung und Flut
    Eine Ewigkeit hatte Brahma als Nichts auf dem Rücken der Urschlange Sescha geruht und sich zum All gesammelt.
    Dann schuf sein Denken die zehn Schöpfer!
    Sie wurden die Väter der Götter und Dämonen, die Ahnherrn der Menschen, und bauten mit ihnen Welten aus dem All.
    Kaschjapa, einer der Schöpfer, nahm die Töchter des Schöpfers Dakscha zu Gattinnen:
    Aditi schenkte ihm die Aditia oder Götter, Diti die Daitia und Danu die Danawa, zwei den Göttern feindliche Dämonengeschlechter.
    Der Sohn der Sonne aber war Manu, der erste Mensch.
    Im Auf und Ab der Zeiten vermehrten sich die Geschöpfe schier ins Unendliche, da dem Leben noch kein Ende gesetzt war.
    Brahma versank in tiefes Denken:
    Er wollte dem wuchernden Leben Einhalt gebieten, doch er konnte kein Mittel finden, den Strom der Fruchtbarkeit einzudämmen: Sein schöpferischer Wille hatte ihn hervorgebracht, und der war für ewige Zeiten unabänderlich.
    Da schlugen, im Zorn über seine Hilflosigkeit, lohende Flammen aus den Augen des ohnmächtigen Allmächtigen und drohten die Welt zu verzehren!
    Der Gott Schiwa aber fühlte inniges Mitleid mit allem Leben und bat den Erhabenen, seinen Zorn zu mäßigen, daß dessen Feuer das herrliche All nicht fräße. Die Flammen erloschen vor diesem Hauch des Alleinsempfindens!
    Ein Tropfen fiel von der Stirne Brahmas und ward zu einem ernsten, schwarzäugigen Weib in purpurnem Kleide.
    Nach Süden wandte es sich, um von dannen zu schreiten, als der Herr es anrief:
    »Du Frucht meines Denkens über Vernichtung des Lebens sollst Tod heißen:
    Du geh' und schlage Weise wie Toren, Gute wie Böse und alles was lebt, auf daß es nicht mehr erstehe, denn die Welt sinkt schier ins Wasser von seiner Last!«
    Laut weinend warf sich die Lotusgeschmückte vor dem Allmächtigen auf die Knie und barg ihr Antlitz in seinen Händen.
    »Gnade! Du Herr der Welt!« schluchzte sie.
    »Soll ich Kindern und Greisen, Starken und Schwachen, Sündern und Büßern mit gleichem Maß messen? – Wie wird man mich hassen, wenn

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