Anonym - Briefe der Lust
durch die Haustür auf die Straße trat, wo das Taxi schon auf mich wartete.
5. KAPITEL
Im Osten war das erste Licht des Tages zu sehen, als ich zu Hause ankam. Ich bezahlte das Taxi und ignorierte es, wie der Fahrer meine Schenkel beäugte, als ich aus dem Wagen stieg. Ich wollte nicht bedauern, dass ich mit Austin ins Bett gegangen war, obwohl ich mir vorgenommen hatte, es nicht wieder zu tun. Der Sex war zu gut gewesen, so gut, wie er nur mit jemandem sein kann, der einen schon kennt. Aber ich hatte ein neues Leben begonnen, in einer neuen Stadt, mit einem neuen Job und einem neuen Apartment. Ich wollte auch neue Gewohnheiten – und dazu zählte Austin ganz sicher nicht.
Ich wollte einen Mann, der auf dem College gewesen war. Der eine Karriere hatte und nicht nur einen Job. Einen, der ein Auto besaß, der pünktlich seine Rechnungen bezahlte und dessen Kleidungsstücke zueinanderpassten. Einen Mann mit einer guten Ausbildung, nicht einen, der rauchte und trank oder log und seine Kreditkarte bis zum Limit belastete und nachts verschwand, ohne auch nur eine Nachricht zu hinterlassen. Keinen, der mein Auto zu Schrott fuhr, weil er kein eigenes hatte.
Ich wollte einen Mann, keinen als Mann verkleideten Jungen.
Das ist unfair , hatte Austin mir mehr als einmal vorgeworfen. Ich bin nicht wie diese Kerle.
Diese Kerle. Die Männer, mit denen meine Mutter sich traf. Nein, er war nicht wie diese Kerle. Jedenfalls nur selten. Aber ich hatte immer damit gerechnet, dass er sich in einen von ihnen verwandelte. Vielleicht hatte er recht, und ich war ihm gegenüber unfair gewesen, aber er hatte genügend Dinge getan, von denen er genau wusste, dass sie mich verletzten. Verdammt. Dasselbe hatte ich auch mit ihm gemacht.
Meine Absätze klapperten sehr laut über die Marmorfliesen, als ich am Empfangstresen vorbeiging, der um diese Zeit nicht besetzt war. Unzählige Male hatte ich den Fahrstuhl für mich allein gehabt, wenn ich perfekt gestylt war. In dieser Nacht, in der mir klar war, dass ich aussah wie ein zerzauster Gaul nach einem langen, harten Ritt, schob sich eine Hand zwischen die Türen, die sich soeben schließen wollten, und ich musste den Aufzug teilen.
„Vielen Dank“, sagte der Mann, dem ich schon früher begegnet war. „Ich bin zu müde zum Treppensteigen.“
Er lehnte sich mit halb geschlossenen Augen in die Ecke gegenüber. Seine Schultern hoben sich, als er einen Seufzer ausstieß, der zu einem Gähnen wurde. Prompt musste ich auch gähnen und hielt mir rasch die Hand vor den Mund. Er sah mich an und lächelte verhalten. Als ich sein Lächeln erwiderte, war mir sehr bewusst, dass höchstwahrscheinlich mein Lippenstift und mein Eyeliner verschmiert waren. Wir drehten uns beide zur Tür um, aber ich spürte seinen Blick, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass er mich tatsächlich anschaute. Anders als bei unseren vorherigen Begegnungen war er dieses Mal nicht zu abgelenkt, um mich zu bemerken. Als ich ihm mein Gesicht ein kleines bisschen zuwandte, studierte er hochkonzentriert die flimmernden weißen Zahlen, die die Stockwerke anzeigten.
Ich musste mir auf die Unterlippe beißen, um mein Lächeln zu unterdrücken. Dieser Mann vögelte mich praktisch mit seinen Blicken. Wer wäre da nicht geschmeichelt?
Es schien mir, als würde es ewig dauern, bis wir endlich im ersten Stock ankamen. Er ging an mir vorbei, ohne mich zu berühren, aber meine Haut prickelte, als hätte er es getan. Er stieg aus dem Fahrstuhl, und ich stieß die Luft aus, die ich angehalten hatte. Ich hatte ihn vorher schon zwei Mal gesehen. Dieses war unsere dritte Begegnung. Es musste der Zauber der magischen Zahl sein, denn dieses Mal war er derjenige, der sich umdrehte.
„Ich habe dich vermisst.“
Ich stürze mich regelrecht in Austins Arme, als er das sagt. Eine Woche von ihm getrennt zu sein, war einfach zu lang. Seine Eltern hatten ihn mir weggenommen, hatten ihn entführt, damit er sie zu einem Verwandtschaftsbesuch anlässlich einer Beerdigung begleitete. Mit neunzehn war er nun wirklich alt genug, um allein zu Hause zu bleiben, aber sie hatten darauf bestanden, dass er mitfuhr, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Ich glaube, der eigentliche Grund war, dass sie uns daran hindern wollten, es in sämtlichen Zimmer des Hauses zu treiben, während sie fort waren. Das kann ich ihnen nicht verübeln, denn genau das wäre passiert. Ich hätte mich unwohl gefühlt, wenn ich mitgefahren wäre, falls sie mich dazu aufgefordert
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