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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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es ist alles so menschlich, daß ich mir oft wie ein Unmensch vorkomme, weil ich den Feierabend nur als Nummer
    vorführen kann. Ich habe mich mit Marie darüber unterhalten, ob ein Tier wohl
    Feierabend haben könnte, eine Kuh, die wiederkäut, ein Esel, der dösend am Zaun steht. Sie meinte, Tiere, die arbeiten und also Feierabend hätten, wären eine
    Blasphemie. Schlaf wäre so etwas wie Feierabend, eine großartige Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier, aber das Feierabendliche am Feierabend wäre ja, daß man ihn ganz bewußt erlebt. Sogar Ärzte haben Feierabend, neuerdings sogar die Priester.
    Darüber ärgere ich mich, sie dürften keinen haben und müßten wenigstens das am Künstler verstehen. Von Kunst brauchen sie gar nichts zu verstehen, nichts von Sendung, Auftrag und solchem Unsinn, aber von
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    der Natur des Künstlers. Ich habe mich mit Marie immer darüber gestritten, ob der Gott, an den sie glaubt, wohl Feierabend habe, sie behauptete immer ja, holte das Alte Testament heraus und las mir aus der Schöpfungsgeschichte vor: Und am siebten Tage ruhte Gott. Ich widerlegte sie mit dem Neuen Testament, meinte, es könnte ja sein, daß der Gott im Alten Testament Feierabend gehabt habe, aber ein Christus mit Feierabend wäre mir unvorstellbar. Marie wurde blaß, als ich das sagte, gab zu, daß ihr die Vorstellung eines Christus mit Feierabend blasphemisch vorkomme, er habe
    gefeiert, aber wohl nie Feierabend gehabt.
    Schlafen kann ich wie ein Tier, meistens traumlos, oft nur für Minuten, und habe doch das Gefühl, eine Ewigkeit lang weg gewesen zu sein, als hätte ich den Kopf durch eine Wand gesteckt, hinter der dunkle Unendlichkeit liegt, Vergessen und ewiger Feierabend, und das, woran Henriette dachte, wenn sie plötzlich den
    Tennisschläger auf den Boden, den Löffel in die Suppe fallen ließ oder mit einem kurzen Schwung die Spielkarten ins Feuer warf: nichts. Ich fragte sie einmal, woran sie denke, wenn es über sie käme, und sie sagte: »Weißt du es wirklich nicht ?« —
    »Nein«, sagte ich, und sie sagte leise: »An nichts, ich denke an nichts.« Ich sagte, man könne doch gar nicht an nichts denken, und sie sagte: »Doch, das kann man, ich bin dann plötzlich ganz leer und doch wie betrunken, und ich möchte am liebsten auch noch die Schuhe abwerfen und die Kleider - ohne Ballast sein.« Sie sagte auch, es sei so großartig, daß sie immer darauf warte, aber es käme nie, wenn sie drauf warte, immer ganz unerwartet, und es sei wie eine Ewigkeit. Sie hatte es auch ein paarmal in der Schule gehabt, ich erinnere mich der heftigen Telefongespräche meiner Mutter mit der Klassenlehrerin und des Ausdrucks: »Ja, ja, hysterisch, das ist das Wort - und bestrafen Sie sie hart.«
    Ich habe ein ähnliches Gefühl der großartigen Leere manchmal beim Mensch-
    ärgere-dich-nicht-Spielen, wenn es über drei, vier Stunden lang dauert; allein die Geräusche, das Klappern des Würfels, das Tappen der Puppen, das Klick,
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    wenn man eine Puppe schlägt. Ich brachte sogar Marie, die mehr zum Schachspielen neigt, dazu, süchtig auf dieses Spiel zu werden. Es war wie ein Narkotikum für uns.
    Wir spielten es manchmal fünf, sechs Stunden lang hintereinander, und Kellner und Zimmermädchen, die uns Tee oder Kaffee brachten, hatten die gleiche Mischung aus Angst und Wut im Gesicht wie meine Mutter, wenn es über Henriette kam, und
    manchmal sagten sie, was die Leute im Bus gesagt hatten, als ich von Marie nach Hause fuhr: »Unglaublich.« Marie erfand ein sehr kompliziertes Anschreibesystem mit Punkten: je nachdem, wo einer rausgeschmissen wurde oder einen rausschmiß, bekam er Punkte, eine interessante Tabelle entwickelte sie, und ich kaufte ihr einen Vierfarbenstift, weil sie die passiven Werte und die aktiven Werte, wie sie sie nannte, dann besser markieren konnte. Manchmal spielten wir es auch während langer
    Eisenbahnfahrten zum Erstaunen seriöser Fahrgäste - bis ich ganz plötzlich merkte, daß Marie nur noch mit mir spielte, weil sie mir eine Freude machen, mich beruhigen, meiner »Künstlerseele« Entspannung verschaffen wollte. Sie war nicht mehr dabei, vor ein paar Monaten fing es an, als ich mich weigerte, nach Bonn zu fahren, obwohl ich fünf Tage lang hintereinander keine Vorstellung hatte. Ich wollte nicht nach Bonn. Ich hatte Angst vor dem Kreis, hatte Angst, Leo zu begegnen, aber Marie sagte dauernd, sie müsse noch einmal »katholische Luft« atmen. Ich erinnerte sie daran, wie wir nach

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