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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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konzentrieren. Meine Nummern sind zu sehr
    gemischt aus Pantomime, Artistik, Clownerie - ich wäre ein guter Pierrot, könnte aber auch ein guter Clown sein, und ich wechsle meine Nummern zu oft.
    Wahrscheinlich hätte ich mit den Nummern katholische und evangelische Predigt, Aufsichtsratssitzung, Straßenverkehr und ein paar anderen jahrelang leben können, aber wenn ich eine Nummer zehn- oder zwanzigmal gezeigt habe, wird sie mir so
    langweilig, daß ich mitten im Ablauf Gähnanfälle bekomme, buchstäblich, ich muß meine Mundmuskulatur mit äußerster Anspannung disziplinieren. Ich langweile mich über mich selbst. Wenn ich mir vorstelle, daß es Clowns gibt, die dreißig Jahre lang dieselben Nummern vorführen, wird mir so bang ums Herz, als wenn ich dazu
    verdammt wäre, einen ganzen Sack Mehl mit einem Löffel leerzuessen. Mir muß eine Sache Spaß machen, sonst werde ich krank. Plötzlich fällt mir ein, ich könnte
    möglicherweise auch jonglieren oder singen: alles Ausflüchte, um dem täglichen Training zu entfliehen. Min-101
    destens vier, möglichst sechs Stunden Training, besser noch länger. Ich hatte auch das in den vergangenen sechs Wochen vernachlässigt und mich täglich mit ein paar
    Kopfständen, Handständen und Purzelbäumen begnügt und auf der Gummimatte, die
    ich immer mit mir herumschleppe, ein bißchen Gymnastik gemacht. Jetzt war das
    verletzte Knie eine gute Entschuldigung, auf der Couch zu liegen, Zigaretten zu rauchen und Selbstmitleid zu inhalieren. Meine letzte neue Pantomime Ministerrede war ganz gut gewesen, aber ich war es leid, zu karikieren, und kam doch über eine
    bestimmte Grenze nicht hinaus. Alle meine lyrischen Versuche waren gescheitert. Es war mir noch nie gelungen, das Menschliche darzustellen, ohne furchtbaren Kitsch zu produzieren. Meine Nummern Tanzendes Paar und Schulgang und Heimkehr aus der
    Schule waren wenigstens artistisch noch passabel. Als ich aber dann Lebenslauf eines Mannes versuchte, fiel ich doch wieder in die Karikatur. Marie hatte recht, als sie meine Versuche, Lieder zur Guitarre zu singen, als Fluchtversuch bezeichnete. Am besten gelingt mir die Darstellung alltäglicher Absurditäten: ich beobachte, addiere diese Beobachtungen, potenziere sie und ziehe aus ihnen die Wurzel, aber mit einem anderen Faktor als mit dem ich sie potenziert habe. In jedem größeren Bahnhof
    kommen morgens Tausende Menschen an, die in der Stadt arbeiten - und es fahren Tausende aus der Stadt weg, die außerhalb arbeiten. Warum tauschen diese Leute nicht einfach ihre Arbeitsplätze aus? Oder die Autoschlangen, die sich in
    Hauptverkehrszeiten aneinander vorbeiquälen. Austausch der Arbeits- oder
    Wohnplätze, und die ganze überflüssige Stinkerei, das dramatische Mit-den-Armen-rudern der Polizisten wäre zu vermeiden: es wäre so still auf den Straßenkreuzungen, daß sie dort Mensch-ärgere-dich-nicht spielen könnten. Ich machte aus dieser
    Beobachtung eine Pantomime, bei der ich nur mit Händen und Füßen arbeite, mein Gesicht unbewegt und schneeweiß immer in der Mitte bleibt, und es gelingt mir, mit meinen vier Extremitäten den Eindruck einer ungeheuren Quantität von über-102
    stürztet Bewegung zu erwecken. Mein Ziel ist: möglichst wenig, am besten gar keine Requisiten. Für die Nummer Schulgang und Heimkehr von der Schule brauche ich
    nicht einmal einen Ranzen; die Hand, die ihn hält, genügt, ich renne vor bimmelnden Straßenbahnen im letzten Augenblick über die Straße, springe auf Busse, von diesen ab, werde durch Schaufenster abgelenkt, schreibe mit Kreide orthographisch Falsches an Häuserwände, stehe - zu spät gekommen - vor dem scheltenden Lehrer, nehme den Ranzen von der Schulter und schleiche mich in die Bank. Das Lyrische in der
    kindlichen Existenz darzustellen gelingt mir ganz gut: im Leben eines Kindes hat das Banale Größe, es ist fremd, ohne Ordnung, immer tragisch. Auch ein Kind hat nie Feierabend als Kind; erst, wenn die »Ordnungsprinzipien« angenommen werden, fängt der Feierabend an. Ich beobachte jede Art der Feierabendäußerung mit fanatischem Eifer: wie ein Arbeiter die Lohntüte in die Tasche steckt und auf sein Motorrad steigt, wie ein Börsenjobber endgültig den Telefonhörer aus der Hand legt, sein Notizbuch in die Schublade legt, diese abschließt oder eine Lebensmittelverkäuferin die Schürze ablegt, sich die Hände wäscht und vor dem Spiegel ihr Haar und ihre Lippen zurechtmacht, ihre Handtasche nimmt - und weg ist sie,

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