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Ansichten Eines Clowns

Ansichten Eines Clowns

Titel: Ansichten Eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Boll , Heinrich Böll
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geringste spürte. Ich dachte auch daran, daß es unfair von mir war, mit dem Schlüssel, den ihr Vater mir gegeben hatte, ins Haus und auf Maries Zimmer zu gehen, aber ich hatte gar keine andere Wahl, als den Schlüssel zu benut-
    zen. Das einzige Fenster in Maries Zimmer lag zur Straße
    hin, und die war bis zwei Uhr morgens so belebt, daß ich auf dem Polizeibüro gelandet wäre - und ich mußte diese Sache heute mit Marie tun. Ich ging sogar in eine Drogerie und kaufte mir von dem Geld, das ich von meinem Bruder Leo geliehen hatte, irgendein Zeug, von dem sie in der Schule erzählt hatten, daß es die männliche Kraft steigere. Ich wurde knallrot, als ich in die Drogerie ging, zum Glück bediente mich ein Mann, aber ich sprach so leise, daß er mich anbrüllte und mich aufforderte,
    »laut und deutlich« zu sagen, was ich wolle, und ich nannte den Namen des Präparats, bekam es und zahlte bei der Frau des Drogisten, die mich kopfschüttelnd ansah. Natürlich kannte sie mich, und als sie am nächsten Morgen erfuhr, was geschehen war, machte sie sich wahrscheinlich Gedanken, die gar nicht zutrafen, denn zwei Straßen weiter öffnete ich die Schachtel und ließ die Pillen in die Gosse rollen.
    Um sieben, als die Kinos angefangen hatten, ging ich in die Gudenauggasse, den Schlüssel schon in der Hand, aber die Ladentür war noch auf, und als ich reinging, steckte oben Marie den Kopf in den Flur und rief »Hallo, ist da jemand?« -»Ja«, rief ich, »ich bins« - ich rannte die Treppe hinauf, und sie sah mich erstaunt an, als ich sie, ohne sie anzurühren, langsam in ihr Zimmer zurückdrängte. Wir hatten nicht viel miteinander gesprochen, uns immer nur angesehen und angelächelt, und ich wußte auch bei ihr nicht, ob ich du oder Sie sagen sollte. Sie hatte den grauen, zerschlissenen, von ihrer Mutter geerbten Bademantel an, das dunkle Haar hinten mit einer grünen Kordel zusammengebunden; später, als ich die Schnur aufknüpfte, sah ich, daß es ein Stück Angelschnur von ihrem Vater war. Sie war so erschrocken, daß ich gar nichts zu sagen brauchte, und sie wußte genau, was ich wollte. »Geh«, sagte sie, aber sie sagte es automatisch, ich wußte ja, daß sie es sagen mußte, und wir wußten beide, daß es sowohl ernst gemeint wie automatisch gesagt war, aber schon als sie
    »Geh« zu mir sagte, und nicht »Gehen Sie«, war die Sache entschieden. Es lag soviel
    zigen Wort, daß ich dachte, sie würde für ein Leben ausreichen, und ich hätte fast geweint; sie sagte es so, daß ich überzeugt war: sie hatte gewußt, daß ich kommen würde, jedenfalls war sie nicht vollkommen überrascht. »Nein, nein«, sagte ich, »ich gehe nicht - wohin sollte ich denn gehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Soll ich mir zwanzig Mark leihen und nach Köln fahren - und dich dann später heiraten?« -
    »Nein«, sagte sie, »fahr nicht nach Köln.« Ich sah sie an und hatte kaum noch Angst. Ich war kein Kind mehr, und sie war eine Frau, ich blickte dorthin, wo sie den Bademantel zusammenhielt, ich blickte auf ihren Tisch am Fenster und war froh, daß kein Schulkram da herumlag: nur Nähzeug und ein Schnittmuster. Ich lief in den Laden runter, schloß ihn ab und legte den Schlüssel dahin, wo er schon seit fünfzig Jahren hingelegt wird: zwischen die Seidenkissen und die Sütterlin-hefte. Als ich wieder raufkam, saß sie weinend auf ihrem Bett. Ich setzte mich auch auf ihr Bett, an die andere Ecke, zündete eine Zigarette an, gab sie ihr, und sie rauchte die erste Zigarette ihres Lebens, ungeschickt; wir mußten lachen, sie blies den Rauch so komisch aus ihrem gespitzten Mund, daß es fast kokett aussah, und als er ihr zufällig einmal aus der Nase herauskam, lachte ich: es sah so verworfen aus. Schließlich fingen wir an zu reden, und wir redeten viel. Sie sagte, sie denke an die Frauen in Köln, die
    »diese Sache« für Geld machten und wohl glaubten, sie wäre mit Geld zu bezahlen, aber es wäre nicht mit Geld zu bezahlen, und so stünden alle Frauen, deren Männer dorthin gingen, in ihrer Schuld, und sie wolle nicht in der Schuld dieser Frauen ste- hen. Auch ich redete viel, ich sagte, daß ich alles, was ich über die sogenannte körperliche Liebe und über die andere Liebe gelesen hätte, für Unsinn hielte. Ich könnte das nicht voneinander trennen, und sie fragte mich, ob ich sie denn schön fände und sie liebte, und ich sagte, sie sei das einzige Mädchen, mit dem ich »diese Sache« tun wollte, und ich hätte immer nur an

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