Ansichten Eines Clowns
»die wäscht immer für uns, und so hätte die ganze Stadt teilgenommen an dem, was wir getan haben, und wegwerfen wollte ich sie auch nicht. Ich dachte einen Augenblick lang daran, sie wegzuwerfen, aber dann fand ich es doch zu schade.« - »Hast du denn kein warmes Wasser gehabt?« fragte ich, und sie sagte: »Nein, der Boiler ist schon lange kaputt.« Dann fing sie ganz plötzlich an zu weinen, und ich fragte sie, warum sie denn jetzt weine, und sie flüsterte: »Mein Gott, ich bin doch katholisch, das weißt du doch —« und ich sagte, daß jedes andere Mädchen, evangelisch oder ungläubig, wahrscheinlich auch weinen würde, und ich wüßte sogar, warum; sie blickte mich fragend an, und ich sagte: »Weil es wirklich so etwas wie Unschuld gibt.« Sie weinte weiter, und ich fragte nicht, warum sie weine. Ich wußte es: sie hatte diese Mädchengruppe schon ein paar Jahre und war immer mit der Prozession gegangen, hatte bestimmt mit den Mädchen dauernd von der Jungfrau Maria gesprochen - und nun kam sie sich wie eine Betrügerin oder Verräterin vor. Ich konnte mir vorstellen, wie schlimm es für sie war. Es war wirklich schlimm, aber ich hatte nicht länger warten können. Ich sagte, ich würde mit den Mädchen sprechen, und sie schrak hoch und sagte: »Was - mit wem?« - »Mit den Mädchen aus deiner Gruppe«, sagte ich, »es ist wirklich eine schlimme Sache für dich, und wenn es hart auf hart kommt, kannst du meinetwegen sagen, ich hätte dich vergewaltigt.« Sie lachte und sagte: »Nein, das ist Unsinn, was willst du denn den Mädchen sagen?« Ich
sagte: »Ich werde nichts sagen, ich werde einfach vor ihnen auftre-
ten, ein Paar Nummern vorführen und Imitationen machen, und sie werden denken: Ach, das ist also dieser Schnier, der mit Marie diese Sache getan hat - dann ist es schon ganz anders, als wenn da nur herumgeflüstert wird.« Sie überlegte, lachte wieder und sagte leise: »Du bist nicht dumm.« Dann weinte sie plötzlich wieder und sagte: »Ich kann mich hier nicht mehr blicken lassen.« Ich fragte: »Warum?« aber sie weinte nur und schüttelte den Kopf.
Ihre Hände in meinen Achselhöhlen wurden warm, und je wärmer ihre Hände wurden, desto schläfriger wurde ich. Bald waren es ihre Hände, die mich wärmten, und als sie mich wieder fragte, ob ich sie denn liebe und schön fände, sagte ich, das sei doch selbstverständlich, aber sie meinte, sie höre das Selbstverständliche so gern, und ich murmelte schläfrig, ja, ja, ich fände sie schön und liebte sie.
Ich wurde wach, als Marie aufstand, sich wusch und anzog. Sie schämte sich nicht, und mir war es selbstverständlich, ihr dabei zuzusehen. Es war noch deutlicher als eben: wie ärmlich sie gekleidet war. Während sie alles zuband und zuknöpfte, dachte ich an die vielen hübschen Dinge, die ich ihr kaufen würde, wenn ich Geld hätte. Ich hatte schon oft vor Modegeschäften gestanden und mir Röcke und Pullover, Schuhe und Taschen angesehen und mir vorgestellt, wie ihr das alles stehen würde, aber ihr Vater hatte so strikte Vorstellungen von Geld, daß ich nie gewagt hätte, ihr etwas mitzubringen. Er hatte mir einmal gesagt: »Es ist schrecklich, arm zu sein, schlimm ist aber auch, so gerade hinzukommen, ein Zustand, in dem sich die meisten Menschen befinden.« - »Und reich zu sein?« hatte ich gefragt, »wie ist das ?«Ich war rot gewor- den. Er hatte mich scharf angesehen, war auch rot geworden und hatte gesagt:
»Junge, das kann schlimm werden, wenn du das Denken nicht aufgibst. Wenn ich noch Mut und den Glauben hätte, daß man in dieser Welt etwas ausrichten kann, weißt du, was ich tun würde?« - »Nein«, sagte ich. »Ich würde«, sagte er und wurde wieder
rot, »irgend eine Gesellschaft gründen, die sich um die Kinder reicher Leute küm-
mert. Die Dummköpfe wenden den Begriff asozial immer nur auf die Armen an.«
Mir ging viel durch den Kopf, während ich Marie beim Ankleiden zusah. Es machte mich froh und auch unglücklich, wie selbstverständlich für sie ihr Körper war. Später, als wir miteinander von Hotel zu Hotel zogen, bin ich morgens immer im Bett geblieben, um ihr zusehen zu können, wie sie sich wusch und anzog, und wenn das Badezimmer so ungünstig lag, daß ich ihr vom Bett aus nicht zusehen konnte, legte ich mich in die Wanne. An diesem Morgen in ihrem Zimmer wäre ich am liebsten liegen geblieben und wünschte, sie würde nie mit Anziehen fertig. Sie wusch sich gründlich Hals, Arme und Brust und
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