42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
ERSTES KAPITEL
Der Kampf um die Liebe
O wende deine Strahlenaugen
Von meinem bleichen Angesicht;
Ich darf ja meinen Blick nicht tauchen
Zu tief in das verzehrend Licht. –
Wenn unter deiner Wimper Schatten
Der Liebe mächt'ge Sonne winkt.
So muß mein armes Herz ermatten,
Bis es in Wonne untersinkt.
Von den südlichen Ausläufern der Pyrenäen her trabte ein Reiter auf die altberühmte Stadt Manresa zu. Er ritt ein ungewöhnlich starkes Maultier, und dies hatte seinen guten Grund, denn er selbst war von hoher, mächtiger Gestalt, und wer nur einen einzigen Blick auf ihn warf, der sah sofort, daß dieser riesige Reitersmann eine ganz ungewöhnliche Körperkraft besitzen mußte. Und wie man die Erfahrung macht, daß gerade solche Kraftgestalten das frömmste und friedfertigste Gemüt besitzen, so lag auch auf dem offenen und vertrauenerweckenden Gesicht und in den treuen grauen Augen dieses Mannes ein Ausdruck, der keinen Glauben an den Mißbrauch so außergewöhnlicher Körperstärke aufkommen ließ.
Sein blondes Haar und seine Züge ließen vermuten, daß er kein Südländer sei; doch war sein Gesicht von der Sonne tief gebräunt, und sein Auge hatte jenen scharfen, umfassenden und durchdringenden Blick, welchen man nur an Seeleuten, Präriejägern oder sehr weit gereisten Männern zu beobachten pflegt.
Er mochte vielleicht sechsundzwanzig Jahre zählen, doch ging von ihm jene Ruhe, jener Hauch der Erfahrung und Gewißheit aus, welcher den Menschen älter erscheinen läßt, als er ist. Seine nach französischem Schnitt gefertigte Kleidung war aus feinen Stoffen, aber bequem gearbeitet, und hinter dem Sattel war ein Reitfelleisen befestigt, welches Dinge zu enthalten schien, die dem Reiter wertvoll waren, denn wie unwillkürlich fühlte er zuweilen daran, um sich zu überzeugen, daß es noch vorhanden sei.
Als er Manresa erreichte, war es bereits am späten Nachmittag. Er ritt durch die alten Mauern und engen Straßen, bis er die Plaza (Marktplatz) erreichte, wo er ein neugebautes, hohes Haus bemerkte, über dessen Tür in goldenen Lettern zu lesen war ‚Hotel Rodriganda‘. Der Schärfe seines Rittes nach war zu vermuten, daß er gar nicht beabsichtigt hatte, in Manresa Einkehr zu nehmen, sobald er aber dieses Schild gelesen, lenkte er sein Tier in einem kurzen, raschen Trab nach dem Tor des Hotels und stieg ab.
Jetzt erst, als sein Fuß die Erde berührte, konnte man seine imposante Erscheinung voll bewundern. Wenn im ersten Augenblick das Herkulische seiner Figur auffällig erscheinen mußte, so war es doch sogleich die schöne Harmonie seines Gliederbaues, welche jenen Eindruck milderte und neben der Bewunderung und Achtung eine freundliche Zuneigung erwecken mußte.
Einige dienstbare Geister eilten herbei, um ihm behilflich zu sein. Er überließ ihnen sein Maultier und trat in den Raum, welcher für vornehmere Gäste reserviert zu sein schien. Dort befand sich nur ein einziger Mann, der sich bei seinem Eintritt höflich erhob.
„Buenas tardes – guten Abend!“ grüßte der Fremde.
„Buenas tardes!“ antwortete der Mann. „Ich bin der Wirt. Befehlen Euer Gnaden vielleicht eine Wohnung?“
„Nein, gebt einen Imbiß und eine Flasche Vino regia.“
Der Wirt erteilte die betreffenden Befehle und fragte dann: „So wollen Sie heute nicht in Manresa bleiben?“
„Ich reite noch bis Rodriganda. Wie weit ist dies bis dahin?“
„Sie werden es in einer Stunde erreichen, Señor. Es sah aus, als ob Sie erst die Absicht hätten, an meinem Hotel vorüberzureiten.“
„Allerdings“, antwortete der Fremde. „Ihre Firma hielt mich zurück. Warum nennen Sie Ihr Haus Rodriganda?“
„Weil ich längere Jahre Diener des Grafen war und es seiner Güte verdanke, daß ich mir das Haus bauen konnte.“
„So kennen Sie die Verhältnisse des Grafen genau?“
„Sehr genau.“
„Ich bin Arzt und stehe im Begriff, mich ihm vorzustellen. Es wäre mir lieb, mich orientieren zu können. Welches sind die Personen, die man auf Schloß Rodriganda antrifft?“
Der Wirt schien, entgegengesetzt der spanischen Weise, ein menschenfreundlicher Mann zu sein, vielleicht war es ihm auch lieb, in der einsamen Nachmittagsstunde eine Unterhaltung zu finden. Er war redselig:
„Ich bin gern bereit, Ihnen jede Auskunft zu erteilen, Señor. Ich höre an Ihrer Aussprache des Spanischen, daß Sie ein Ausländer sind. Jedenfalls sind Sie von dem kranken Grafen herbeigerufen worden?“
Der Fremde
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