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Ansichten Eines Clowns

Ansichten Eines Clowns

Titel: Ansichten Eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Boll , Heinrich Böll
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sie hatten sich totgelacht, »köstlich amüsiert«, und wenn ich anschließend mit einem leeren Patronenkarton oder einem Tablett rundging, hatten sie meistens Scheine geopfert. Mit diesen zynischen alten Knackern verstand ich mich
    ganz gut, ich hatte nichts mit ihnen zu tun, mit chinesischen Manda-
    rinen hätte ich mich genausogut verstanden. Einige hatten sich sogar zu Kommentaren meinen Darbietungen gegenüber verstiegen »Kolossal« -
    »Großartig«. Manche hatten sogar mehr als ein Wort gesagt: »Der Junge hat's in sich« oder »In dem steckt noch was.«
    Während ich Chopin hörte, dachte ich zum erstenmal daran, Engagements zu suchen, um ein bißchen Geld zu verdienen. Ich könnte Großvater bitten, mich als Alleinunterhalter bei Kapitalistenversammlungen zu empfehlen, oder zur Auf- heiterung nach Aufsichtsratssitzungen. Ich hatte sogar schon eine Nummer
    »Aufsichtsrat« einstudiert.

    Als Leo ins Zimmer kam, war Chopin sofort weg; Leo ist sehr groß, blond, mit seiner randlosen Brille sieht er aus, wie ein Superintendent aussehen müßte oder ein schwedischer Jesuit. Die scharfen Bügelfalten seiner dunklen Hose nahmen den letzten Hauch Chopin weg, der weiße Pullover über der scharfgebügelten Hose wirkte peinlich, wie der Kragen des roten Hemdes, das über dem weißen Pullover zu sehen war. Ein solcher Anblick - wenn ich sehe, wie jemand vergeblich versucht, gelockert auszusehen - versetzt mich immer in tiefe Melancholie, wie anspruchsvolle Vornamen, Ethelbert, Gerentrud. Ich sah auch wieder, wie Leo Henriette ähnlich sieht, ohne ihr zu gleichen: die Stupsnase, die blauen Augen, der Haaransatz - aber nicht ihren Mund, und alles, was an Henriette hübsch und beweglich wirkte, ist an ihm rührend und steif. Man sieht ihm nicht an, daß er der beste Turner in der Klasse ist; er sieht aus wie ein Junge, der vom Turnen befreit ist, hat aber über seinem Bett ein halbes Dutzend Sportdiplome hängen.
    Er kam rasch auf mich zu, blieb plötzlich ein paar Schritte vor mir stehen, seine verlegenen Hände etwas seitwärts gespreizt, und sagte: »Hans, was ist denn?« Er blickte mir in die Augen, etwas darunter, wie jemand, der einen auf einen Flecken
    aufmerksam machen will, und ich merkte, daß ich geweint hatte. Wenn ich Chopin
    Tränen weg und sagte: »Ich wußte nicht, daß du so gut Chopin spielen kannst. Spiel die Mazurka doch noch einmal.«
    »Ich kann nicht«, sagte er, »ich muß zur Schule, wir kriegen in der ersten Stunde die Deutschthemen fürs Abitur.«
    »Ich bring dich mit Mutters Auto hin«, sagte ich.

    »Ich mag nicht mit diesem dummen Auto fahren«, sagte er, »du weißt, daß ich es hasse.« Mutter hatte damals von einer Freundin »wahnsinnig preiswert« einen Sportwagen übernommen, und Leo war sehr empfindlich, wenn ihm irgend etwas als Angeberei ausgelegt werden konnte. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn in wilden Zorn zu versetzen: wenn jemand ihn hänselte oder hätschelte unserer reichen Eltern wegen, dann wurde er rot und schlug mit den Fäusten um sich.
    »Mach eine Ausnahme«, sagte ich, »setz dich ans Klavier und spiel. Willst du gar nicht wissen, wo ich war?«
    Er wurde rot, blickte auf den Boden und sagte: »Nein, ich will es nicht wissen.«

    »Ich war bei einem Mädchen«, sagte ich, »bei einer Frau - meiner Frau.«

    »So?« sagte er, ohne aufzublicken. »Wann hat die Trauung denn stattgefunden?« Er wußte immer noch nicht, wohin mit seinen verlegenen Händen, wollte plötzlich mit gesenktem Kopf an mir vorbeigehen. Ich hielt ihn am Ärmel fest.
    »Es ist Marie Derkum«, sagte ich leise. Er entzog mir seinen Ellbogen, trat einen Schritt zurück und sagte: »Mein Gott, nein.«
    Er sah mich böse an und knurrte irgend etwas vor sich hin.

    »Was«, fragte ich, »was hast du gesagt?«

    »Daß ich jetzt doch mit dem Auto fahren muß - bringst du mich?«

    Ich sagte ja, nahm ihn bei der Schulter und ging neben ihm her durchs Wohnzimmer. Ich wollte es ihm ersparen, mich anzusehen. »Geh und hol die Schlüssel«, sagte ich,
    »dir gibt Mutter sie - und vergiß die Papiere nicht - und, Leo, ich brauche Geld - hast
    »Ich weiß nicht«, sagte ich, »schick es mir lieber.«

    »Schicken?« fragte er. »Willst du weggehen?«

    »Ja«, sagte ich. Er nickte und ging die Treppe hinauf.

    Erst in dem Augenblick, als er mich fragte, hatte ich gewußt, daß ich weggehen wollte. Ich ging in die Küche, wo Anna mich knurrend empfing.
    »Ich dachte, du wolltest kein Frühstück mehr«, sagte

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