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Ansichten Eines Clowns

Ansichten Eines Clowns

Titel: Ansichten Eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Boll , Heinrich Böll
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sie böse.

    »Frühstück nicht«, sagte ich, »aber Kaffee.«Ich setzte mich an den gescheuerten Tisch und sah Anna zu, wie sie am Herd den Filter von der Kaffeekanne nahm und ihn zum Austropfen auf eine Tasse stellte. Wir frühstückten immer morgens mit den Mädchen in der Küche, weil es uns zu langweilig war, im Eßzimmer feierlich serviert zu bekommen. Um diese Zeit war nur Anna in der Küche. Norette, das Zweitmädchen, war bei Mutter im Schlafzimmer, servierte ihr das Frühstück und besprach mit ihr Garderobe und Kosmetik. Wahrscheinlich mahlte Mutter jetzt irgendwelche Weizenkeime zwischen ihren herrlichen Zähnen, während irgendein Zeug, das aus Plazenten hergestellt ist, auf ihrem Gesicht liegt und Norette ihr aus der Zeitung vorliest. Vielleicht waren sie auch jetzt erst beim Morgengebet, das sich aus Goethe und Luther zusammensetzt und meistens einen Zusatz moralischer Aufrüstung erhält, oder Norette las meiner Mutter aus den gesammelten Prospekten für Abführmittel vor. Sie hat ganze Schnellhefter voll Medikamentenprospekte, getrennt nach
    »Verdauung«, »Herz«, »Nerven«, und wenn sie irgendwo eines Arztes habhaft werden kann, informiert sie sich nach »Neuerscheinungen«, spart dabei das Honorar für eine Konsultation. Wenn einer der Ärzte ihr dann Probepackungen schickt, ist sie selig.
    Ich sah Annas Rücken an, daß sie den Augenblick scheute, wo sie sich rumdrehen, mir ins Gesicht blicken und mit mir reden mußte. Wir beide haben uns gern, obwohl
    sie die peinliche Tendenz, mich zu erziehen, nie unterdrücken kann. Sie war schon
    Vetter, der evangelischer Pfarrer war, übernommen. Anna ist aus Potsdam, und schon die Tatsache, daß wir, obschon evangelisch, rheinischen Dialekt sprechen, kommt ihr irgendwie ungeheuerlich, fast widernatürlich vor. Ich glaube, ein Protestant, der bayrisch spräche, würde ihr wie der Leibhaftige vorkommen. Ans Rheinland hat sie sich schon ein bißchen gewöhnt. Sie ist groß, schlank und stolz drauf, daß sie »sich wie eine Dame bewegt«. Ihr Vater war Zahlmeister bei einem Ding, von dem ich nur weiß, daß es I. R. 9 hieß. Es nutzt gar nichts, Anna zu sagen, daß wir ja nicht bei diesem I. R. 9 sind; was Jugenderziehung anbelangt, läßt sie sich nicht von dem Spruch abbringen: »Das wäre beim I. R. 9 nicht möglich gewesen.« Ich bin nie ganz hinter dieses I. R. 9 gekommen, weiß aber inzwischen, daß ich in dieser geheimnisvollen Erziehungsinstitution wahrscheinlich nicht einmal als Kloreiniger eine Chance gehabt hätte. Vor allem meine Waschpraktiken riefen bei Anna immer I. R. 9-Beschwörun-gen hervor, und »diese fürchterliche Angewohnheit, so lange wie möglich im Bett zu bleiben«, ruft bei ihr einen Ekel hervor, als wäre ich mit Lepra behaftet. Als sie sich endlich umdrehte, mit der Kaffeekanne an den Tisch kam, hielt sie die Augen gesenkt wie eine Nonne, die einen etwas anrüchigen Bischof bedient. Sie tat mir leid, wie die Mädchen aus Maries Gruppe. Anna hatte mit ihrem Nonneninstinkt sicher gemerkt, wo ich herkam, während meine Mutter wahrschein- lich, wenn ich drei Jahre lang mit einer Frau heimlich verheiratet wäre, nicht das geringste merken würde. Ich nahm Anna die Kanne aus der Hand, goß mir Kaffee ein, hielt Annas Arm fest und zwang sie, mich anzusehen: sie tat es mit ihren blassen, blauen Augen, flatternden Lidern, und ich sah, daß sie tatsächlich weinte.
    »Verdammt, Anna«, sagte ich, »sieh mich an. Ich nehme an, daß man in deinem I. R. 9 sich auch mannhaft in die Augen geschaut hat.«
    »Ich bin kein Mann«, wimmerte sie, ich ließ sie los; sie stellte sich mit dem

    Gesicht zum Herd, murmelte etwas von Sünde und Schande, Sodom und Gomorrha,
    »Anna, mein Gott, denk doch dran, was die in Sodom und Gomorrha wirklich gemacht haben.« Sie schüttelte meine Hand von ihrer Schulter, ich ging aus der Küche, ohne ihr zu sagen, daß ich von zu Haus wegwollte. Sie war die einzige, mit der ich manchmal über Henriette sprach.
    Leo stand schon draußen vor der Garage und blickte ängstlich auf seine Armbanduhr. »Hat Mutter gemerkt, daß ich weg war ?« fragte ich. Er sagte »Nein«, gab mir die Schlüssel und hielt das Tor auf. Ich stieg in Mutters Auto, fuhr raus und ließ Leo einsteigen. Er blickte angestrengt auf seine Fingernägel. »Ich habe das Sparbuch«, sagte er, »ich hole das Geld in der Pause. Wohin soll ichs schicken?« - »Schicks an den alten Derkum«, sagte ich. »Bitte«, sagte er, »fahr los, es ist Zeit.« Ich

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