Anthrax
warum das Gerichtsmedizinische Institut die Leiche in so einem Fall nicht telefonisch zurückbeordert hat. Du darfst nicht vergessen, daß diese Leute ständig miteinander zu tun haben; die Angestellten des Bestattungsunternehmens kennen die Gerichtsmediziner. Es ist absolut unüblich, einfach dort aufzukreuzen und eine Leiche begutachten zu wollen. Glaub mir!«
»Was schlägst du also vor?« fragte Warren. Jack stellte eine Gegenfrage: »Habt ihr die Straße gefunden?«
»Ich glaube, ja«, meldete Flash.
»Dann laßt uns die Sache durchziehen, bevor ich kalte Füße kriege«, riet Jack.
Als sie ein paar Blocks hinter sich gelassen hatten, fiel Jack etwas ein. Er kramte sein Handy hervor und wählte die Nummer des Vorzimmers von Dr. Bingham. Erwartungsgemäß meldete sich Cheryl Sanford mit ihrer zuckersüßen Stimme. Jack nannte seinen Namen und fragte, ob der Chef in Hörweite sei.
»Nein«, berichtete Cheryl. »Die Gesundheitsbeauftragte hat eine Sofort-Sitzung einberufen. Er ist gar nicht im Hause.«
»Um so besser«, stellte Jack fest. »Ich habe nämlich ein kleines Problem und brauche Ihre Hilfe.«
»Wollen Sie mich etwa wieder mal in die Bredouille bringen?« fragte Cheryl. Jack war schon so oft zu Dr. Bingham zitiert worden, daß sie ihn inzwischen recht gut kannte. »Da liegen Sie vielleicht nicht ganz falsch«, gestand Jack. »Aber falls es Ärger gibt, nehme ich alle Schuld auf mich. Außerdem würden Sie es für eine gute Sache tun.« Er berichtete ihr von dem plötzlichen Tod von Flashs Schwester, von dem Dilemma, daß Connies Leiche bereits freigegeben worden war, und von den Widersprüchen im Hinblick auf die Krankengeschichte der Toten, die auf einen gewaltsamen Tod hindeuteten. Da Cheryl von Natur aus großmütig war und über einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit verfügte, hatte sie ein offenes Ohr für Jacks Anliegen. Jack räusperte sich. »Falls in der nächsten halben Stunde jemand vom Bestattungsinstitut Strickland anruft und den Chef verlangt, teilen Sie dem Anrufer bitte mit, daß Dr. Bingham bei der Gesundheitsbeauftragten ist, was ja sogar der Wahrheit entspricht. Aber ich würde Sie bitten hinzuzufügen, daß Dr. Jack Stapleton beauftragt wurde, dem Leichnam von Connie Davydov ein paar Körperflüssigkeiten zu entnehmen.«
»Das ist alles?« fragte Cheryl.
»Das ist alles«, meinte Jack lässig. »Aber wenn Sie sich noch ein bißchen weiter aus dem Fenster lehnen wollen, können Sie gern hinzufügen, daß Sie den Besuch von Dr. Stapleton eigentlich längst hatten avisieren wollen, daß Sie es aber aufgrund des plötzlichen Aufbruchs Ihres Chefs leider vergessen hätten.«
»Wie gerissen Sie sind!« bewunderte Cheryl ihn. »Was Sie vorhaben, finde ich in Ordnung – vor allem wenn tatsächlich Mordverdacht besteht. Ich helfe Ihnen gern.«
»Nennen Sie mich lieber einfallsreich statt gerissen«, flachste Jack. Er bedankte sich auch im Namen von Flash und beendete die Verbindung.
»Klingt ja so, als hättest du alles geregelt«, stellte Warren fest.
»Mal abwarten«, entgegnete Jack. Er hegte längst nicht so große Zuversicht. Nach seiner Erfahrung waren die Geschäftsführer von Bestattungsinstituten meistens schwierige Typen, die peinlich genau auf jedes Detail achteten. Und Unwägsamkeiten gab es reichlich. Falls das Institut über ausreichend Personal verfügte, konnte er sich sogar vorstellen, daß man ihn mit Gewalt von seinem Vorhaben abzuhalten versuchte.
Das Bestattungsinstitut Strickland befand sich in einem zweistöckigen stuckverzierten Haus, das früher einmal die Prachtvilla einer reichen Brooklyner Familie gewesen war. Offenbar hatte man versucht, dem Gebäude durch einen weißen Anstrich einen freundlicheren Touch zu verleihen, doch es wirkte trotzdem schwerfällig und klotzig; der Stil war undefinierbar. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge. Der Parkplatz grenzte an den Greenwood Cemetery mit seinen unzähligen Grabsteinen.
Warren zog die Handbremse an und stellte den Motor ab. »Sieht irgendwie unheimlich aus, findet ihr nicht?« fand Jack.
»Was machen die da drinnen eigentlich?« rätselte Warren laut. »Das habe ich mich schon immer gefragt.«
»Besser, du weißt es nicht«, entgegnete Jack. »Okay, bringen wir die Sache hinter uns! Sonst verliere ich noch die Nerven.«
»Wir warten hier«, bestimmte Warren und sah Flash an. Flash nickte.
»Kommt gar nicht in Frage!« widersprach Jack. »Diesmal nicht. Als ich vorhin ›wir‹ gesagt habe,
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