Anthrax
Dem Stadtplan entnahm er, daß er vom Prospect Park kommend nur die Coney Island Avenue geradeaus hinunterfahren mußte, um nach Brighton Beach zu gelangen. Ein Blick auf die Uhr bestärkte ihn in seinem Entschluß: Er würde während der Mittagspause eine nette Spritztour nach Brighton Beach machen, auch wenn er seine Pause dafür auf mehr als zwei Stunden ausdehnen mußte. Yuri Davydovs Gesundheit war zwar der Hauptbeweggrund für seinen Ausflug; aber er konnte ihn ebenso als Belohnung für seine erheblichen Fortschritte beim Abarbeiten der bürokratischen Formalitäten betrachten. Außerdem hatte er ja nun eine stichhaltige Entschuldigung für seine Eskapaden vom Vortag. Was ihn allerdings am meisten zu der Spritztour beflügelte, war das Wetter an diesem herrlichen Spätsommertag: Die Sonne schien kräftig, es war mild, und dazu blies ein angenehmes Lüftchen. Vielleicht, so mutmaßte Jack, war es der letzte schöne Tag vor dem Winteranfang. Bevor er losfuhr, sah er noch einmal bei Laurie vorbei, um ihr von dem positiven Botulismus-Ergebnis zu berichten. Doch ihre Kollegin teilte ihm mit, daß sie immer noch im Sektionssaal sei. Also beschloß er, erst bei seiner Rückkehr mit ihr zu reden.
Die Fahrradtour entpuppte sich als noch viel schöner als erwartet. Am grandiosesten war die Fahrt über die Brooklyn Bridge und durch den Prospect Park. Die Strecke über die Coney Island Avenue war nicht ganz so beeindruckend, aber auch ganz nett. Als er die Neptune Avenue passiert hatte, fiel ihm etwas auf, das er nicht erwartet hatte: Sämtliche Werbe-und Hinweisschilder waren in kyrillischer Schrift gehalten.
An der Oceanview Avenue hielt er an und fragte einen Passanten nach der Oceanview Lane. Erst beim dritten Versuch traf er auf jemanden, der ihm den Weg zu der kleinen Gasse erklären konnte. Was er dort sah, überraschte ihn, obwohl Flashs Beschreibung ziemlich genau zutraf. Die ganze Siedlung bestand aus eng aneinandergedrängten kleinen Holzhäusern unterschiedlicher Stilrichtungen. Manche waren einigermaßen gut erhalten, andere ziemlich heruntergekommen. Die jeweiligen Grundstücke umgaben Zäune aus den verrücktesten Materialien. Einige Vorgärten waren akkurat mit Herbstblumen bepflanzt, andere dienten als Schrottlager für türlose Kühlschränke, Fernsehapparate mit herausquillendem Innenleben, zerbrochenes Spielzeug und allen möglichen anderen Müll. Die Dächer standen in tollkühnen Winkeln zueinander, ein Hinweis darauf, daß vollkommen ünkoordiniert an die ursprünglichen Häuser angebaut worden war. Aus den Firstbalken der Dächer sprossen verrostete Fernsehantennen wie abgestorbene Baumkrüppel gen Himmel. Jack fuhr langsamer und nahm die Häuser genauer ins Visier. Einige schmückten viktorianische Verzierungen. Die meisten bedurften dringend eines Anstrichs und einer gründlichen Renovierung. Etwa die Hälfte der Häuser verfügte über freistehende Garagen. Während er gemächlich die Straße entlangradelte, bellten und knurrten überall Hunde. Von ein paar Kleinkindern und ihren Müttern abgesehen waren weder Erwachsene noch Kinder unterwegs, was Jack daran erinnerte, daß es sich um einen ganz normalen Schultag handelte.
Neben dem üblichen Straßennetz gab es in der Siedlung etliche kleine Gassen, denen man zum Teil nicht einmal Namen gegeben hatte. Einige der Gassen waren so eng, daß Autos sie nicht passieren und die Häuser nur zu Fuß erreicht werden konnten. Über den Sträßchen und Gassen erstreckte sich ein improvisiertes Netz aus Telefon-und E-lektroleitungen. Ein handgeschriebenes, notdürftig an einen Telefonmast genageltes Schild wies Jack auf die Oceanview Lane hin. Er bog in die Gasse ein und mußte höllisch aufpassen, nicht in eines der riesigen kraterartigen Schlaglöcher zu geraten. Schließlich wollte er nicht kopfüber absteigen. An den wenigsten der Häuser waren Nummern angebracht, doch auf einer Mülltonne entdeckte er die handgeschriebene Nummer dreizehn. Da er davon ausging, daß es sich bei dem nächsten Haus um die Nummer fünfzehn handelte, hielt er davor an und sah sich um. Es unterschied sich nicht großartig von den anderen Schuppen; allerdings verfügte es anstelle der eher typischen Grundmauern aus Aschenstein über ein Betonfündament. Außerdem befand sich neben dem Haus eine Doppelgarage. Das Dach war mit Bitumen-Schindeln gedeckt, wobei etliche Schindeln fehlten. Die Fliegentür war zugezogen. Das Abflußrohr seitlich des Eingangs war zerbrochen, der
Weitere Kostenlose Bücher