0862 - Der Leichenmantel
Ich konnte ihn nicht beschreiben, es war einfach das Fühlen oder das Gefühl, daß hier etwas nicht stimmte und sich innerhalb der letzten Tage etwas verändert hatte.
»Ist was mit dir?« fragte Suko. Er stand dicht hinter mir. Etwas an meiner Haltung mußte ihn gestört haben. Der Inspektor war ebenso wie ich in Trivino geblieben, im Gegensatz zu Abbé Bloch. Der hatte seine Reise zurück nach Alet-les-Bains wieder angetreten, weil er bei seinen Templern gebraucht wurde und der Fall der mörderischen Zwillinge und eines abtrünnigen Engels für ihn vorbei war.
Für Suko und mich weniger. Wir hatten noch einen Rest erledigen wollen. Dazu gehörte eine Untersuchung des Klosters, das von Frauen bewohnt wurde, die sich die Namenlosen Nonnen nannten.
Sie waren Personen, die auf der falschen Seite standen, denn sie hatten sich entschlossen, dem Bösen zu dienen.
Jede von ihnen zählte zu den Ausgestoßenen. Sie waren aus normalen Orden ausgetreten oder einfach hinausgeworfen worden, weil sie sich im Laufe der Zeit für einen anderen Weg entschlossen hatten. In diesem alten Gemäuer hoch in den Schweizer Bergen hatten sie sich zusammengefunden und dem abtrünnigen Engel Josephiel sowie seiner dämonischen Zwillingsbrut Schutz gegeben.
»Ich habe dich was gefragt, John.« Ich erwachte wie aus einem kurzen Schlaf. »Kann sein, ja…«
»Was ist denn mit dir?«
»Das kann ich auch nicht sagen. Etwas stimmt nicht. Zumindest habe ich den Eindruck.«
Das konnte mein Freund Suko nicht nachvollziehen. Er schaute mich etwas überrascht an und meinte: »Die Zwillinge können es nicht sein.«
»Stimmt.«
»Josephiel auch nicht.«
»So ist es.«
»Wer ist es dann?«
Ich hob die Schultern. »Du kennst mein Gefühl, Suko. Hier stimmt etwas nicht. Es ist anders als sonst. Halt mich für einen Spinner oder auch nicht, aber es kommt mir vor, als hätte der Tod diesem Kloster einen Besuch abgestattet.«
»Du spinnst.«
»Ich weiß nicht.«
»Wie kommst du überhaupt darauf?«
In der Stille hatten wir uns flüsternd unterhalten. Es war Nachmittag und auch ein wunderschöner Tag. Die Sonne meinte es gut. Sie bestrahlte eine grandiose, wenn auch einsame Landschaft am Nordrand des Tessins, dicht hinter dem Gotthard-Massiv, wo die Schweiz nicht so ist, wie man sie aus Touristen-Informationen kennt.
Ich wollte meinem Freund zunächst nichts von dem Geruch sagen und fand eine Ausrede. »Mich wundert es nur, daß niemand da ist. Man hätte uns gehört haben müssen, aber es kam keiner, um uns zu begrüßen. Mir kommt das Kloster leer vor, verlassen, sogar fluchtartig.«
»Das ist klar.«
»Und warum ist das klar.«
»Wir haben gewonnen. Es gibt nichts, was sich für die Nonnen gelohnt hätte, zu beschützen. Josephiel ist nicht mehr, die Zwillinge sind von deinem Kreuz ›verschluckt‹ worden, also haben die Nonnen auch keine Aufgabe mehr.«
Ich dachte über Sukos Worte nach, was ihm zu lange dauerte, denn er forderte eine Antwort. »Was sagst du? Gar nichts? Warum nicht? Liege ich so falsch mit meiner Vermutung?«
»Das nicht, aber ich kann dir auch nicht zustimmen. Ich habe da meine Meinung.«
»Dann sollten wir nicht so lange hier herumstehen, sondern uns das Kloster von innen anschauen.«
»Das hatte ich vor.«
»Scheint mir aber nicht so«, murmelte Suko in seinen nicht vorhandenen Bart.
Wir kannten uns aus. Suko besonders, denn er und der Abbé hatten hier eigentlich ihr Grab finden sollen, doch dem Inspektor war es gelungen, die Nonnen zu überlisten. Sie waren ihnen entwischt und hatten sogar die Mutter der teuflischen Zwillinge, Naomi, in Sicherheit bringen können.
Da ich die breite Tür nicht festgehalten hatte, war sie wieder zugefallen. Ich zog sie auf, und schlagartig erwischte mich wieder dieses Gefühl, den Tod riechen zu können.
Das war verrückt, ich wußte es selbst, aber ich kam nicht dagegen an. Etwas strahlte aus, und es mochte nur die Stille sein, die sich zwischen den Wänden ballte.
Eine Stille, die nicht normal war. Ich hatte den Eindruck, sie schmecken zu können. Sie lauerte, sie wußte mehr, sie lebte, und irgendwie spürte man auch, wenn ein Haus von den Bewohnern verlassen worden ist. Da kommen einige Faktoren zusammen. Auch in diesem Kloster verdichteten sie sich, nur erklären konnte ich sie nicht.
Wir kannten nur einen Teil des Klosters, Suko mehr als ich, denn er hatte sich auch im Keller herumgetrieben, wo die Räume mehr Verliesen glichen und auch Naomi gefangengehalten
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