Anthropofiction
Vorwort
Ich hatte das Vorrecht, das Manuskript dieses Buches vor seiner Veröffentlichung zu lesen. Ich tat es weniger in meiner Akademikerrolle als Anthropologe – denn Leon Stovers Nachwort hat dies unnötig gemacht – es war viel eher eine literarische Übung in einem Medium, mit dem ich selten konfrontiert worden war, und – reines Vergnügen.
In ihrer ›Einführung‹ konstatieren die Herausgeber, daß »Science Fiction so neu sei, wie der Stand der Wissenschaften im Zwanzigsten Jahrhundert«. Es ist zweifellos richtig, daß diese Geschichten als echte ›Fiction‹ dargeboten werden, ohne Rückgriffe auf Übernatürliches oder Vortäuschen von Wahrheit. Doch davon abgesehen befriedigt Science Fiction einBedürfnis der menschlichen Natur, das älter ist als die Sage von Daedalus und Ikarus, vielleicht sogar noch älter als die dramatische Darstellung des ersten Medizinmannes, der den vogelgleichen Flug seiner Seele beschrieb, zu Himmelswesen, mächtiger als Menschen. Dieser Band enthält sogar die Geschichte eines sprechenden Tieres, des Delphins mit der Flaschennase.
Die hier vereinten Geschichten sind in mehr als ei ner Hinsicht moralisch. Sie stellen die Werte unserer eigenen Zivilisation in Frage, sie illustrieren die Opferbereitschaft und Kameradschaft mutiger und findiger Männer, die an gefährlichen Projekten arbeiten, und sie sind, in einem Jahrhundert krassester Pornographie, blütenweiß, was den Sex betrifft. Einige Stories spiegeln die Vorurteile und Frustrationen ihrer Autoren wider, von denen viele von morgens 9 bis nachmittags um 5 Uhr und oft noch nachts kühle Wissenschaftler sind. Unverfrorene Verwaltungsbeamten versuchen die Bemühungen des Mannes im weißen Kittel in den heiligen Gefängnissen seines Laboratoriums zu bremsen. Eine junge Frau, darauf erpicht, eine unbekannte Sprache zu entziffern, wird angewiesen, sich entweder zu beeilen oder aufzugeben. Ein General wütet komisch gegen das Beamtenchinesisch des Pentagon, und ein kommunistischer chinesischer Autor läßt einen verständnisvollen Marsmenschen auftreten, der ihm als Analogie erzählt, was an seiner Regierung falsch ist.
Die meisten Geschichten befassen sich kritisch mit dem Lauf der Zeit, zurück, nach vorn und in Einsteinschen Spiralen und Kurven. In nur einer Geschichte werden kurz außersinnliche Wahrnehmungen erwähnt, und nur eine operiert in jeder Hinsicht mit dem Übernatürlichen. Ein paar Geschichten, vor allem Horace Miners Beitrag, sind außerordentlich geistreich. Ande re sind schaurig. Und fast alle bauen ein fast platzendes Sammelbecken von Spannung auf. Mehrere Erzählungen enden mit durchschlagenden Pointen, vor allem Arthur C. Clarkes »Die neun Milliarden Namen Gottes«.
Ich habe dieses Buch unendlich gern gelesen, aber viel mehr möchte ich nicht sagen, aus Furcht, sonst zu viele Katzen aus einem Riesensack zu lassen.
Carleton S. Coon
Gloucester, Massachusetts
Einführung
Science Fiction spielt keine genau bestimmte Rolle in der Gesellschaft, und sie widersetzt sich sogar innerhalb der Literatur einer präzisen Definition. Es gibt zahllose Definitionen von Science Fiction – und zahllose Argumente zu jeder Definition – und es gibt sicher keine leichte Antwort von der Art wie etwa: ein Kriminalroman ist ein Roman der von Verbrechen handelt und die Western Story ist ein Genre, das vom Wilden Westen handelt. Die vielleicht einzige Definition, über die sich nicht streiten läßt, heißt – obwohl viele feixen werden –: »Science Fiction ist das, worauf ich hinwei se, wenn ich Science Fiction sage«.
Seit der Begriff 1926 zum erstenmal auftauchte, hat man ständig versucht ihn zu ändern, mit minimalen oder gar keinen Ergebnissen. Der Grund für den mangelnden Erfolg mag die Tatsache sein, daß die beiden Elemente des Begriffs, Science und Fiction, grundlegend sind. Der Stoff ist sicher ›Dichtung‹ – niemand hat es je anders behauptet. Und das Ganze hat mit Wissenschaft zu tun. Die Wissenschaft mag gut sein, sie mag schlecht sein oder ganz und gar fehlen. Auf alle Fälle ist die Erkenntnis, daß wir in einer Welt leben, die den Stempel systematischer Wissenschaft trägt – der Stand der Wissenschaften – ein wesentlicher Bestandteil aller Science Fiction.
Vielleicht ist die gegenwärtige Beliebtheit der Science Fiction darauf zurückzuführen, daß SF zumindest diesen Tatbestand erkennt. Wenn ein Leser weiß, daß die Atombombe seine Welt in wenigen Augen blicken
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