Antiheld (German Edition)
gras . Als er sich zurück auf die Couch gleiten lässt, entweicht die Luft wie ein feuchter Furz.
«Geh mir aus den Augen», sagt er mit gleichgültiger Stimme und starrt auf den Bildschirm.
Das Gespräch ist beendet.
Auf dem Weg in mein Zimmer schaue ich nach meiner Mutter. Durch das Schlüsselloch im Arbeitszimmer sehe ich, dass sie im Schlafanzug hinter dem Schreibtisch sitzt. Das Fenster ist weit geöffnet. Sie raucht – heimlich – und telefoniert. Ich wette, am anderen Ende der Leitung ist einer der Juniorpartner, mit denen die dumme Gans fickt.
Ich schließe die Tür hinter mir ab und lasse ein Bad ein. Kaum bin ich im heißen Wasser untergetaucht, stelle ich mir vor, wie es wäre, hier und jetzt zu ersaufen. Einfach aus dem Leben gehen. Was würde ich hinterlassen? Ein großes Nichts, da hat mein Alter recht. Wer würde sich an mich erinnern?
Niemand.
Das ist das Problem meiner Generation: Wir können keine Geschichte schreiben . Wir sind eine Generation der Überflüssigen, humanoide Auslaufmodelle. Wir sind keine Imperatoren, keine Zerstörer mehr. Niemand möchte die Macht an sich reißen, möchte der gnadenlose Usurpator sein. Haare in der Suppe der Evolution. Unbedeutend und unwichtig.
Um uns eine Fußnote in den Geschichtsbüchern zu verdienen, können wir nicht einmal mehr sinnlos töten. Die großen, die hässlichen Morde, sie sind bereits begangen worden. Kein Schwein zuckt mehr mit den Achseln, wenn eine Schulklasse niedergeschossen wird. Inzest und sexuelle Ausschweifungen, völlig unspektakulär. Wir gähnen gelangweilt, wenn wir einen Porno mit einer Dreijährigen sehen. Drogen entlocken uns seit Jahrzehnten nur noch ein müdes Lächeln, weil wir all die spröden Rauschzustände bereits in- und auswendig kennen.
Nach der Badewanne lege ich mich nackt ins Bett. Auf dem Boden steht ein Teller mit Carpaccio. Er wirkt wie ein zur Seite gerücktes Möbelstück. Über die dünnen Scheiben hat sich bereits ein feiner Schleier aus silbernen Härchen gelegt. Ich mag das süßliche Aroma der Verwesung. Dieser Geruch erfüllt den ganzen Raum.
Ich schließe die Augen. Der Cursor meines Bewusstseins fährt wilde Kurven in die Welt der Vergangenheit und bleibt, vibrierend vor Erregung, bei ihren Augen stehen. Es sind die einzigen Augen für mich. Sie sind die Grundlage, existenziell. Dabei weiß ich noch nicht einmal, ob man sie schön nennen könnte: Sie erinnern an das verfaulte Innere eines Baumstammes.
Diese Augen stecken in einem Körper aus weißem Fleisch, und sie dienen als Wegweiser zu verdorbenen Geheimnissen, die niemals passiert sind, außer im Reich meiner Fantasie. Drei Jahre sind eine lange Zeit: Jetzt kommt alles wieder – Szene für Szene, Bild für Bild.
Ferienlagerhölle. Der Geruch von frischem Heu allgegenwärtig und intensiv. Gedanken an nackte Brüste und daran, wie es wäre, wenn eines der Mädchen meinen Schwanz wichst. Schmutzige Taschenspielertricks der Fantasie. Grölende Betreuer, die sich mehr um ihre eigenen Besäufnisse kümmern als um uns. Über den Köpfen aschfahler Himmel, der über jedem dieser langweiligen Küstenorte hängt.
Sie war bleich und schmal, mit Brüsten kaum größer als Kinderfäuste. Das Kleid gelb wie Pisse. An ihrem gesamten Wesen war nichts Attraktives, gerade deswegen fiel sie mir auf. Sie machte den Eindruck einer kranken alten Frau. Alles an ihr war schwach. Ihr Händedruck, ihre Bewegungen, ihre Sprache, die sie ohne erkennbare Emotion einfach ausspuckte. Ich sah direkt auf ihr Skelett, konnte an ihr nur Zersetzung erkennen, die Fäulnis der frühen Art – es ging nicht anders. Die Blässe, die ihr Gesicht ausmachte, die königsblauen, blutarm versiegenden Adern, die sich durch ihre Schläfen zogen wie Haarrisse – kein Wille erkennbar.
In Zeltlagern vergeht die Zeit unglaublich langsam, man kann nicht viel dagegen unternehmen. Heimlich im Schlafsack oder unter der Dusche wichsen. Billiges Dosenbier trinken. Kettenrauchen und dabei lesen. Ich tat nichts anderes, als mit Büchern getarnt um sie herumzuschleichen, begleitet nur vom Gefühl eines kranken Verliebtseins .
Heute weiß ich, das es Hass war, Hass, der sich in mir wie Farbe auf einer unberührten Leinwand ausbreitete. Dieses unbändige Gefühl sprach direkt aus ihren Augen zu mir, es wurde durch ihre Blicke ausgelöst. Sie waren die Ursache dafür, dass sich in meinem Kopf alles neu arrangierte. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Erfahrung wurde getilgt oder löste
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