Antiheld - Thriller (German Edition)
Kollege. Heute so gut gelaunt!?«
Vincent Keller betrat den Raum. Im Gegensatz zu Andrew wirkte er ziemlich müde. Doch selbst die dunklen Augenringe vermochten seinem Äußeren keinen Abbruch zu tun. Seufzend nahm er am freien Tisch Platz.
»Ein wenig.« Er unterdrückte das gesamte Ausmaß seiner Eu phorie. Die Schule bangte um das Leben einer ihrer Schülerinnen. Es würde auffallen, wenn Andrew nicht auch ein wenig Anteil nahme zeigte. »Aber mir geht dieses Verschwinden dieser Schüle rin nach. Wie war ihr Name noch gleich?«
»Morelli. Carmen. Aus der zehnten.« Kellers Blick glitt zur Seite. »Übrigens, eine ihrer Schülerinnen, wenn ich mich richtig ent sinne.«
»Was?« Eine gespielte Überraschung begleitete seinen Gesichts ausdruck. »Ah, stimmt. Die junge Dame mit der problematischen Rechtschreibung. Sie unterhält eine Beziehung zu Mister Kings ley.«
»Davon weiß ich nichts«, meinte Keller. »Jedenfalls machen einen diese Bedenken verrückt. Vor allem, können einem die Eltern leid tun. Diese nagende Ungewissheit, die einen plagt. Nacht für Nacht liegt man wach, hofft auf die Rückkehr seiner Tochter.« Er sprach, als ob es um sein eigenes Kind ginge. Voller Mitgefühl und Trauer.
»Versetzen Sie sich nur mal in deren Lage.«
Kellers graue Augen trafen ihn gezielt. Sie wirkten anklagend. Abwertend. Ahnte er etwas? Wusste er etwas?
Andrew öffnete die Lippen, schloss sie sogleich wieder, um sie sogleich wieder zu öffnen.
»Was ist, Andrew?« Selbst seine Stimme beherbergte Missgunst. »Haben Sie mir etwas zu sagen?«
Wie ein Verbrecher in einem Verhör. Andererseits fühlte er sich wie im Beichtstuhl. Die Gelegenheit all seine Sünden reinzu waschen.
Keller sah auch mittlerweile um einiges mitfühlender aus. Wie ein guter Freund.
»Nein.« Andrew schüttelte den Kopf. »Gar nichts.«
16
Noch immer rang Andrew mit seiner Entscheidung. Hätte er doch alles erzählen sollen? Doch, was für Konsequenzen hätte das nach sich gezogen!? Sie hätten ihn an den Pranger gestellt, mit dem Finger auf ihn gezeigt und als Mörder bezichtigt. Nun gut, war er auch nichts anderes als ein Mörder, doch sah Andrew immer noch sich selbst im Recht. Das Miststück hätte es einfach nicht so weit treiben sollen.
Erst spielte er mit dem Gedanken, den Ratcatcher wieder zurück in die Versenkung zu schicken. Ihn zu vergraben und nie wieder ans Tageslicht zu holen. Das Problem war nur, dass er mittlerweile zu einem festen Bestandteil Andrews geworden war. Es bereitete ihm Freude, nachts durch die Straßen zu streifen und das Böse zu bekämpfen. Immerhin sah er zum ersten Mal in sei nem Leben einen Sinn in seinem kümmerlichen Dasein. Er wurde benötigt. Ein gutes Gefühl.
Auch diese Nacht hockte er wieder auf einer Feuerleiter und beobachtete aus sicherer Entfernung das Treiben der Nacht. Er bekam dadurch einiges zu sehen. Betrunkene Partygänger, be trunkene Obdachlose, betrunkene Geschäftsmänner, betrunkene Nutten. Das übliche Bild eben.
Erst jetzt sah Andrew es. Nicht er war der Versager, sondern sie. Die, die nachts ihren Kummer mit einer Flasche Scotch runter spülen mussten, um danach ihre Frauen mit der Flasche halb tot zu prügeln.
Plötzlich horchte Andrew auf. Wie ein Tier, hob er die Schultern und senkte den Kopf. Die grinsende Visage, verborgen im Dunkeln, wandte sich in Richtung, aus der das Geräusch drang. Hohe Absätze. Eine Frau also. Wahrscheinlich nur wieder einer der Nutten, auf der Suche nach etwas Spaß und etwas barem. Wo möglich aber auch ein Transvestit. In dieser Stadt war wahrlich alles möglich.
Eine Gestalt trat in den Lichtkreis, der von der Straßenlaterne ausging. Es wirkte fast, als ob die Person auf der Bühne stände und Andrew war der gespannte Zuschauer. Die Person, die sich tat sächlich als Frau herausstellte, versuchte gerade eine Zigarette zu entzünden. Doch irgendwie wollte ihr es nicht gelingen. Fluchend schüttelte sie dieses einige male und versuchte es erneut. Irgend wann, von Nervosität geplagt, warf sie das Ding zu Boden, um noch einmal mit dem Absatz darauf zu treten.
Von weitem sah sie recht ansprechend aus. Modischer Kurz haarschnitt, rote Lippen, sportliche Figur. Sie trug eng anliegende Lederjeans und rückenfreies Shirt, das über ihre Brüste verlief und im Nacken zusammengebunden war. Wenn man die Temperatu ren bedachte, ein recht gewagtes Outfit. Entweder sie wohnte hier in der Nähe und wollte nur kurz frische Luft
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