Antonias Wille
verwundert nachdenken konnte.
Als Antonia schlieÃlich fertig war, beugte sich Julie nach vorn. »Habe ich das richtig verstanden? Sie wollen mir den Hof überschreiben, wenn es mir gelingt, anhand von Rosannas Tagebüchern, die sie anscheinend lange Zeit geführt hat, herauszufinden, was den einstigen Zauber des âºKuckucksnestsâ¹ ausgemacht hat?« Julie schaute Antonia herausfordernd an. »Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt frage: Warum haben Sie in diese Tagebücher nicht längst schon selbst einmal einen Blick geworfen? Vor allem, wenn Sie der Meinung sind, dass darin das Geheimnis des ehemaligen Erfolgs vom âºKuckucksnestâ¹ zu finden ist? Das wäre das Erste, was ich an Ihrer Stelle getan hätte! Dazu brauchen Siemich doch gar nicht!« Sie wies auf einen Stapel ledergebundener Bücher, die Antonia aus einer Schublade unter dem Tisch hervorgekramt hatte. In einer separaten Kiste lagen auÃerdem noch Haufen uralter Zeitungen, dicke Mappen, die wie Fotoalben aussahen, und allerlei anderer Kram. Dafür, dass sich Antonia ein Leben lang nicht um den Hof gekümmert hatte, besaà sie eine Menge Dokumente â¦
»Das sind viele Fragen auf einmal«, antwortete Antonia ausweichend. Sie strich eine unsichtbare Falte aus dem Tischtuch. »Wahrscheinlich halten Sie mich für ein verrücktes altes Huhn. Exzentrisch nennt man solch ein Verhalten bestenfalls, oder?«
Julie winkte ab. »Darum geht es doch gar nicht. Ich will einfach nur verstehen, was das alles zu bedeuten hat.«
Sie hatte noch nie etwas geschenkt bekommen. Gut, als ihr Vater vor ein paar Jahren Michael die Werkstatt überschrieb, hatte er auch ihr einen nicht unerheblichen Betrag ausgezahlt. Ihr Anteil am Erbe sozusagen â der Grundstein für »Soul Fantasies«. Aber das hier war etwas anderes.
»Wollen Sie es nicht wenigstens versuchen?«, fragte Antonia leise.
Julie lachte auf. Erwartete Antonia allen Ernstes, dass sie einfach Ja sagte?
»Woher wollen Sie wissen, dass ich das überhaupt kann? Dass ausgerechnet ich anhand von Rosannas Tagebuchaufzeichnungen und einem Blick auf ein paar vergilbte Fotografien die alten Zeiten rekonstruieren kann? Entschuldigen Sie, Frau Fahrner, aber was Sie da vorhaben ⦠ist das nicht eine sehr seltsame Art von Vergangenheitsbewältigung?«
Sie unterhielten sich noch eine Weile. Antonia beantwortete Julies Fragen â die ihr aus welchem Grund auch immer nicht genehm waren â auf ihre Art und Weise, nämlich sehr ausweichend oder gar nicht. Irgendwann hatte Julie das Gefühl, dass sie sich nur noch im Kreis drehten. Gegen acht Uhrverabschiedete sie sich schlieÃlich. Sie müsse über Antonias Vorschlag nachdenken und bitte sich dafür eine Woche Bedenkzeit aus, sagte sie an der Tür. Antonia stimmte dem zu. So wurde verabredet, dass Julie am nächsten Sonntag um dieselbe Zeit abermals nach Rombach kommen sollte.
Statt das Teegeschirr in die Küche zu tragen, setzte sich Antonia wieder an den Tisch. Im Schein der Reispapierlampen wirbelten kleine Staubwolken über den Boden, die sie bei ihrem morgendlichen feuchten Wischen übersehen haben musste. Blindes altes Weib!
Antonia fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. Der Verlauf des Gesprächs hatte einen faden Nachgeschmack in ihrem Mund hinterlassen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich mehr Begeisterung von Julie erwartet. Gab sie sich womöglich einer Illusion hin, wenn sie sich einbildete, die schöne junge Frau könnte für sie das erledigen, was sie ein Leben lang nicht zu tun gewagt hatte?
Einmal, da war sie nahe dran gewesen, Rosannas Aufzeichnungen zu lesen. Sie konnte sich noch gut erinnern, es war kurz nach dem Tod ihrer Mutter. Nachdem der Krebs sie zerfressen hatte.
Ihre Tante Katharina, die sich um die Beerdigung und die Haushaltsauflösung gekümmert hatte, packte damals auch eine Kiste mit Simones persönlichen Unterlagen und schickte sie an deren Tochter nach Kyoto: Simones Kennkarte, das Familienbuch, ein paar Fotoalben mit alten Schwarz-WeiÃ-Fotografien, das Gästebuch des Hotels, Zeitungen von damals mit Berichten über das Hotel und eben auch Rosannas Tagebücher. Wahrscheinlich hatte Tante Katharina geglaubt, es handele sich dabei um Simones persönliche Aufzeichnungen. Ihr, Antonia, war es anfangs ja nicht anders ergangen.
Zuvor war sie tagelang um die Kiste,
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