Antonias Wille
SüÃe, dann ist jetzt eben der Zeitpunkt gekommen, an dem du den Vogel selbst fliegen musst, statt nur als Passagier darin zu sitzen.«
Gleichgültig, mit wem Julie in den nächsten Tagen über Antonias Willen sprach â überall stieà sie auf Begeisterung:
Ihr sonst so wortkarger Vater kramte das alte Familienbuch hervor und hielt Julie einen ausführlichen Vortrag über die früheren Familienverhältnisse. AnschlieÃend wusste Julie bestens Bescheid. Die traditionsreiche Uhrmacher-Werkstatt von Gottfried Fahrner, dem Vater von Martin, Helmut und Gustav, warim Jahre 1860 gegründet worden. Helmut, also Antonias Vater, war von zu Hause weggegangen, nachdem sein ein Jahr älterer Bruder Martin 1912 die väterliche Werkstatt übernommen hatte. Helmut hatte sich ein Leben als Geselle seines Bruders einfach nicht vorstellen können. AuÃerdem war er als Schildermaler nicht an eine Werkstätte gebunden, sondern konnte überall arbeiten. Seine Heirat mit Simone Breuer hatte er seiner Familie schriftlich mitgeteilt, ihr die Braut aber nie vorgestellt. Er sei wohl schon immer eine Art Querkopf gewesen, sagte Julies Vater achselzuckend. Viele Jahre später sei Helmut dann wieder zu Hause aufgetaucht, doch das sei eine andere Geschichte â¦
Auch Gustav, Julies GroÃvater, war seiner eigenen Wege gegangen: Statt im Familienbetrieb nahm er in der Schweiz eine Lehrstelle an. Mit seinem dort erworbenen Wissen hatte er im Jahr 1928 in Furtwangen eine eigene Uhrmacher-Werkstatt eröffnet und sich dabei auf Reparaturen und aufwändige Restaurationen spezialisiert. Während Gustav seinem Sohn Klaus, Julies Vater, 1960 die Leitung der Werkstatt übertragen hatte und diese inzwischen in dritter Generation von Julies Bruder weitergeführt wurde, hatte die andere Fahrnersche Werkstatt ein paar Jahre später schlieÃen müssen â von Hand gearbeitete Uhren waren nicht mehr gefragt. Uhren kamen inzwischen aus der riesigen Junghans-Fabrik, ein paar Kilometer weiter.
»Wenn du je daran interessiert gewesen wärst, hätte ich dir schon viel früher davon erzählen können«, sagte Julies Vater mehrmals. Am Ende verlor er sich in immer winzigeren Details, sodass Julie ihn schlieÃlich daran erinnern musste, dass es bei ihrem »Auftrag« vor allem um Rosanna und Simone ging und dass sie nicht vorhatte, die Geschichte der Fahrnerschen Uhrmacherei zu recherchieren. Daraufhin hatte ihr Vater undeutlich gebrummt, dass er kein Verständnis für Leute wie seine Kusine Antonia habe, die er übrigens nicht persönlich, sondern nur vom Hörensagen kannte.
»Sie hätte sich ja mal bei uns melden können, als sie aus Japan zurückkehrte, oder? Und auÃerdem hätte sie sich schon vielfrüher um den Hof kümmern sollen, statt ihn jahrzehntelang verkommen zu lassen. SchlieÃlich ist es doch ihr Erbe!«
»Der Berghof ist nicht verkommen!«, hatte Julie ihm entgegnet, und das Bild vom »Kuckucksnest« hatte sie dabei verfolgt wie ihr eigener Schatten: das Haus, eingehüllt in goldenes Sonnenlicht, dahinter der dunkle, fast schwarze Wald. Die verwilderten Gärten, in denen die einstigen Wege unter dem wuchernden Unkraut nicht mehr zu sehen waren. Die Küche mit dem riesigen Spülstein aus Granit und dem blank polierten Eichentisch in der Mitte. Die Gästezimmer mit ihren für heutige Zeiten winzig wirkenden Holzbetten, ein Herrgottswinkel in jedem Raum. All das könnte ihr gehören â¦
Auch für Theo war die Sache längst klar: Sie sah sich im Geiste schon mit den Zeichenschülern über das weitläufige Gelände streifen, Naturbeobachtungen machen und dann alles in Pastellkreide festhalten. Wäre es nach ihr gegangen, hätten sie eher heute als morgen in Freiburg die Zelte abgebrochen.
Dass Theo so wenig an ihrer jetzigen Kunstschule hing, erstaunte Julie. Und es tat ihr weh. Immerhin hatten sie die Räume eigenhändig renoviert, angefangen bei den marmorierten Wänden bis hin zu den Fliesen, die sie in ihrer kleinen Küche verlegt hatten.
Je mehr die anderen auf Julie einredeten, desto unschlüssiger wurde sie.
Am Mittwoch rief sie schlieÃlich Jan Bogner an. Als er sich meldete, hielt Julie sich nicht lange mit einleitenden Worten auf, sondern fragte nach dem Grundbuchamt von Rombach und den Einträgen, die das »Kuckucksnest« betrafen. Doch Bogner wollte
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