Antonias Wille
Gespräch â am Sonntag zuvor â hatte Antonia ihre Krebserkrankung erwähnt. Beiläufig, in einem Nebensatz, als würde sie über Kopfschmerzen klagen. In ihrer Betroffenheit hatte Julie nicht gewusst, was sie sagen sollte. Und Antonia war das nur recht gewesen.
Ohne Formalitäten â das Anreiseformular könne sie auch noch später ausfüllen â händigte Martina Breuer Julie den Schlüssel zu Zimmer Nummer drei aus, das, wie sie stolz verkündete, eine besonders schöne Aussicht hatte.
Antonia war natürlich enttäuscht gewesen, dass Julie ihr Angebot, bei ihr zu wohnen, ausgeschlagen hatte. Doch Julie hatte ganz bewusst auf diese Art von Nähe verzichtet â sie wollte den Kopf für die bevorstehende Aufgabe völlig frei haben.
Doch nachdem sie nun ihr Gepäck auf dem Bett abgelegt hatte, fragte sie sich, ob sie nicht besser auf das Angebot der alten Dame eingegangen wäre. Die Aussicht aus dem kleinen Fenster war zwar wirklich schön, das Zimmer jedoch weder sonderlich groà noch gemütlich, obwohl es ganz offensichtlich vor nicht allzu langer Zeit renoviert worden war. Julies Blick wanderte über das Bett in hellem Eichenfurnier, den zu schmalen Schrank und das Tischchen am Fenster. Als sie den Schrank öffnete, stellte sie fest, dass natürlich zu wenig Bügel darin hingen.
Probehalber setzte sich Julie aufs Bett. Wenigstens war die Matratze schön hart.
Und nun? Gedankenverloren strich Julie über die Tagesdecke. Der synthetische Stoff mit den schrillen Farben und demBlümchenmuster fühlte sich unangenehm kalt an. Ruckartig stand Julie wieder auf und hievte die Bananenkiste auf den Tisch vor dem Fenster.
Zu Antonia hatte sie gesagt, dass sie sich in ein paar Tagen wieder melden würde. Sie benötigte zuerst einmal Zeit, um das gesamte Material zu sichten und ein Gefühl für ihre »Aufgabe« zu bekommen. Worauf wartete sie also noch?
Kurz vor ihrer Abfahrt hatte Theo ihr ein Buch mit dem Titel »So schreiben Sie einen Bestseller« in die Hand gedrückt. Julie bezweifelte, dass ihr die Tipps aus diesem Buch weiterhelfen würden. Antonia wollte schlieÃlich keine spannende Gute-Nacht-Lektüre, sondern die »Wahrheit« über die Vergangenheit erfahren.
»Wer A sagt, muss auch B sagen!« Resolut begann Julie, den Inhalt der Kiste auf der Tischplatte zu verteilen: Rosannas Tagebücher, alle in braunes Leder gebunden, auf einen Stapel. Auf einen anderen Fotoalben, deren Einbände in kunstvoller Jugendstil-Manier gestaltet waren. Auf einen dritten Stapel legte sie den Rest: zerfledderte Aktenmappen aus brauner Pappe, aus denen die Ränder von Zeitungsartikeln hervorlugten. Ein Buch, das sich bei näherer Betrachtung als Gästebuch des Hotels »Kuckucksnest« aus dem Jahr 1904 herausstellte. Einige Baedeker-Reiseführer, ebenfalls aus diesen Jahren. Mit Erstaunen fand Julie in jedem eine ganzseitige Anzeige des Hotels »Kuckucksnest«.
In welchem verwandtschaftlichen Verhältnis standen der Wirt Ewald Breuer, seine Frau und Antonia eigentlich?, fragte sie sich plötzlich. Julie versuchte sich an Antonias knappe Erklärungen zu erinnern: Ewald war der Enkel von Zacharias, der ein Bruder von Antonias Mutter Simone gewesen war. Julie schwirrte der Kopf vor lauter Namen.
Irgendwann war die Kiste leer. Mit verschränkten Armen begutachtete Julie die Tischplatte, die bis über den Rand mit Unterlagen übersät war. Und wo sollte sie nun ihren Laptop aufstellen? Leicht genervt schichtete sie das Material noch einmal um, indem sie alles auf die beiden Nachttische verteilte.
»Was mache ich hier eigentlich?«, fragte sie sich anschlieÃend laut. Konnte es sein, dass die Courage sie verlieÃ? Es konnte nicht nur sein, es war so, gestand sie sich mit einem mutlosen Blick auf den dicken Stapel Tagebücher ein.
»Es nutzt alles nichts!«, sagte sie abermals laut. Entweder sie fand einen Anfang oder sie konnte gleich wieder nach Hause fahren. Julie setzte sich aufs Bett, zog das Kopfkissen unter der Tagesdecke hervor und schob es sich in den Rücken. Dann nahm sie das zuoberst liegende Fotoalbum in die Hand und schlug es auf â¦
Statt eines Fotos erblickte sie eine aufrechte Handschrift: »Hotel âºKuckucksnestâ¹, im Jahre 1905«. Die Buchstaben waren kraftvoll und rund. Und sie waren keineswegs mit engen Schnörkeln
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