Antonias Wille
Später, in den Hoteljahren, ist es ihren Gästen offenbar nicht anders ergangen. Rosanna fand an jedem etwas Liebenswertes. Sie war wie ein glatter, runder Fels, der Wärme ausstrahlte und an dem sich die Menschen aufwärmen konnten. Ihre Liebe kostete nichts.« Julie schaute hoch, um sich zu vergewissern, ob Antonia ihr noch folgte.
»Reden Sie weiter«, sagte diese mit rauer Stimme.
»Simones Liebe dagegen kostete etwas. Sie war nicht frei, sondern einengend. Wer von ihr geliebt wurde â und das war nur ein einziger Mensch â, der durfte seinerseits niemand anderen lieben. Simone sah ihre Liebe zu Rosanna als Bestimmung an, als eine von Gott auferlegte Aufgabe.«
»Das kann man wohl sagen â¦Â« Ein dunkler Schatten huschte über Antonias Gesicht.
Julie wäre gern aufgestanden und hätte die alte Dame noch einmal in den Arm genommen. Stattdessen fuhr sie fort: »Aber das Glück ist wie eine Auster. Wenn man sie in Ruhe lässt und ihr Zeit und Raum gibt, wächst in ihrem Innersten Schicht um Schicht eine wunderschöne Perle heran â vielleicht der Kern der wahren Liebe. Wenn man aber versucht, ihr Innerstes zu erforschen oder gar die Perle an sich zu nehmen, klappt die Muschel zu. Liebe kann man nicht erzwingen. Und das Glück ebenso wenig. Beides hat mit innerer Freiheit zu tun.« Julies Blick war wieder nach innen gerichtet, als sie sagte: »Vielleicht liegt darin das Geheimnis eines tiefen Glücksgefühls. Um seiner selbst willen geliebt zu werden und zu wissen: Diese Liebe ist ein Geschenk, ich kann sie nicht erzwingen, ich kann ihr keine Zügel anlegen und sie festbinden. Dieses Glück ist das Wertvollste, was es überhaupt gibt!«
21. Juni 2002
Julie erwachte davon, dass ihr kalt war. Fröstelnd zog sie die Bettdecke hoch und blinzelte in Richtung Fenster. Es war taghell. Trotzdem sagte ihr Gefühl ihr, dass es noch nicht einmal sechs Uhr morgens war. Im Frühkonzert der Vögel fehlten noch einige Stimmen, das Licht war noch blass und spiegelte sich nur schwach in den silbrigen Tautröpfchen, die wie Perlen an den Geranien in den Fensterkästen hingen.
Julie hatte sich gerade wieder gemütlich in ihr Kissen geschmiegt, als sie wie von einer Tarantel gestochen emporschoss. »Heute ist doch â¦Â«
Mit einem Ruck sprang sie aus dem Bett.
Wo sind die anderen nur?, fragte sie sich ärgerlich, als sie mit bloÃen FüÃen in der Küche stand. Heute war der groÃe Tag â und keinen auÃer ihr schien es zu interessieren. Theo nicht, Jean-Claude nicht, nicht ihren neuen Koch, die Küchenhilfen, niemanden an der Rezeption ⦠Julies Blick wanderte aus dem Fenster in Richtung der ehemaligen Scheune, die sie zu Schlafquartieren für ihre Dozenten umgebaut hatten. Die meisten von ihnen würden zwar täglich von Freiburg aus zu ihren Kursen hier herauffahren, aber es konnte immer wieder einmal geschehen, dass ein Kurs länger dauerte als geplant und ein Dozent keine Lust mehr hatte, sich auf den Heimweg zu machen.
Aus den schlichten Schlafquartieren war im Augenblick kein Mucks zu hören.
Kein Wunder nach der Party letzte Nacht! Jan Bogner schlief oben, in einem der Gästezimmer, ebenfalls noch den Schlaf des Gerechten. Wie gut, dass man Freunde hat, wenn man sie braucht!, knurrte Julie vor sich hin.
Mit eingerollten Zehen stand sie an der Theke und bereitetesich eine Tasse Milchkaffee zu. Als die groÃe Maschine zu brodeln und zu dampfen begann und gleich darauf aromatischen Kaffeeduft verströmte, beruhigten sich Julies Nerven wieder. Wenigstens auf die Technik war Verlass ⦠Sie setzte sich an den Küchentisch und trank einen Schluck, während sie im Geiste den Plan für den Tag durchging.
Vor zwölf Uhr würde keiner der Gäste eintreffen. Den »Weitgereisten«, zu denen ihre und Theos Eltern und einige Freunde aus Freiburg gehörten, würde man einen kleinen Imbiss reichen, später dann Kaffee und Kuchen. Danach hatten die Leute Zeit, sich ein wenig auf eigene Faust umzuschauen oder sich in ihren Zimmern auszuruhen.
Der eigentliche Sektempfang, mit dem das »Arthotel Kuckucksnest« feierlich eröffnet werden und bei dem neben vielen anderen auch der Rombacher Bürgermeister anwesend sein würde, war für fünf Uhr nachmittags geplant. Nicht der Bürgermeister, sondern Antonia würde den letzten, feierlichen
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