Antonias Wille
etwas gedrückt!«, sagte sie lachend.
Julie hatte zuerst von ihrem Alltagsleben im »Kuckucksnest« erzählt. Davon, dass ihr Campingkocher in den letzten Tagen den Geist aufgegeben hatte. Und davon, wie erstaunlich gut sie in der Einsamkeit zurechtgekommen war. SchlieÃlich sprach sie von Jan Bogner und erzählte, dass sie sich angefreundet hätten. Antonia, die den jungen Mann inzwischen auch kennen gelernt hatte, freute sich darüber. Er habe so etwas durch und durch Ehrliches an sich, sagte sie.
Und das als Privatdetektiv, ergänzte Julie kichernd.
Ein gemütlicher Jahresausklang unter zwei sich nicht allzunahe stehenden Verwandten â für einen fremden Betrachter hätte es genau danach ausgesehen. Doch über alldem Kerzenschein, dem Geruch nach Räucherlachs und gefüllten Eiern lag eine fast fühlbare Spannung, die mit jedem Häppchen, das von der kalten Platte verschwand, intensiver wurde. Es war noch nicht einmal neunzehn Uhr â die Kirchenglocken läuteten gerade zum abendlichen Gottesdienst â, als Julie es nicht länger ertrug und fragte, ob Antonia nun anfangen wolle, den Bericht zu lesen. Sie würde sich ins Gästezimmer zurückziehen â es war ausgemacht, dass sie bei Antonia übernachtete â, doch davon wollte Antonia nichts hören. Sie würde den Bericht bestimmt einmal lesen, sagte sie, aber eigentlich wäre es ihr lieber, wenn Julie ihr in eigenen Worten von ihren Recherchen berichtete. Julie zögerte. Schon beim Schreiben war es ihr an manchen Stellen schwer gefallen, die richtigen Worte zu finden. Wie sollte ihr das jetzt aus dem Stegreif gelingen? Antonia winkte nur ab.
Und so begann Julie zu erzählen, wie Rosanna einst nach Rombach gekommen war und bei der Familie Breuer ein neues Zuhause fand. Davon, wie sie und Simone sich angefreundet hatten und dass diese Freundschaft im Laufe der Zeit für Simone immer wichtiger wurde. Manchmal nahm Julie ihren Bericht zur Hand und las Stücke aus Rosannas Tagebucheintragungen vor, weil es ihr wichtig war, Rosannas Sichtweise und nicht nur ihre eigene Interpretation zu vermitteln.
Antonia hörte die meiste Zeit über schweigend zu. Nur manchmal unterbrach sie Julie mit einer Zwischenfrage.
»Meine GroÃmutter muss doch tot umgefallen sein, als Mutter ihr beichtete, dass sie lesbisch war! Zur damaligen Zeit und in Rombach! So etwas wäre ja selbst hier und heute noch ein Skandal. Und trotzdem hat sie ihre Tochter einfach gehen lassen?«
Julie wusste darauf keine Antwort. In Rosannas Tagebüchern stand nichts darüber, wie die Familie Breuer mit der Nachricht, dass die Tochter eine Frau liebte, umgegangen war. Antonia hatte auÃerdem wissen wollen, ob Julie die Eintragung beimRombacher Notar, dank deren Simone nach Rosannas Tod Alleineigentümerin des Hotels geworden war, eingesehen hatte. Julie bejahte â es handelte sich dabei um ein Dokument aus dem Jahr 1905, unterschrieben sowohl von Rosanna als auch von Simone, beglaubigt vom Rombacher Amtsschreiber und der Sekretärin des Bürgermeisters. Antonia hatte anerkennend genickt. Hausaufgaben gemacht!, sagte der Blick, den sie Julie zuwarf.
Immer wieder fragte Julie nach, ob es für Antonia auch nicht zu anstrengend sei, ob ihr die ganze Sache nicht zu viel werde. Antonia hatte jedes Mal abgewinkt und Julie fast ungeduldig zum Weitererzählen angetrieben.
Um kurz nach elf war Julie am Ende ihrer Geschichte angelangt.
Da das Schweigen zwischen ihnen immer beklemmender wurde, stand Antonia auf und ging in die Küche. Als sie zurückkam, balancierte sie auf einem kleinen Tablett eine Flasche Sekt und zwei Gläser.
»Sekt? Jetzt?«
Antonia lächelte über Julies offensichtliche Verwirrung. »Wenn nicht jetzt, wann dann?«, erwiderte sie mit mehr Ãberzeugung, als sie verspürte. »Oder meinten Sie die Tatsache, dass es noch nicht Mitternacht ist?«
Julie runzelte die Stirn. »Sie wissen genau, was ich meine.« Mit einem leicht missbilligenden Zug um den Mund nahm sie Antonia die Flasche aus der Hand und öffnete sie.
»Ich bin ehrlich gesagt ein wenig sprachlos«, sagte sie, während sie die beiden Gläser füllte. »Ich meine, das alles kann doch nicht leicht für Sie sein. Und trotzdem â¦Â« Sie wies mit dem Kinn auf das Glas, das sie Antonia reichte.
»Nicht trotzdem, sondern gerade deshalb! Auf Ihr Wohl,
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