Antonio im Wunderland
anfängt zu regnen. Belmondo rostet also
nicht, und seine Hemden bekommen keine Stockfle-
cken. Es ist anzunehmen, dass sich Ehepaare auf der
Straße umdrehen, wenn Belmondo an ihnen vorbei-
läuft und der Mann sagt: «Guck mal, das war doch der
Belmondo!» Die Frau sagt: «Und er riecht so gut!»
Wenn dieselben Leute kurz darauf an einer Hollywood-
schaukel vorbeigehen, sagen sie – gar nichts.
Bereits zu ihren Glanzzeiten war die Hollywood-
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schaukel im Gegensatz zu Jean-Paul Belmondo eine
Enttäuschung, eigentlich ein großes Missverständnis.
Sie kostete ein Schweinegeld, quietschte, hatte hässli-
che Bezüge, war unbequem, ging kaputt und war
schnell wieder out. Heutzutage sieht man Hollywood-
schaukeln – schon der Name bürgt für Illusion, wenn
nicht für Schwindel – nur noch in Nostalgieshows im
Fernsehen. Und im Garten meines Schwiegervaters.
Der hockt bei schönem Wetter am liebsten auf seiner
Hollywoodschaukel. So auch jetzt. Seine kurzen Bein-
chen erreichen den Boden nicht ganz. Dort, wo er sitzt,
immer an derselben Stelle, hat die Schaukel eine leichte
Schlagseite. Daneben steht ein kleiner Tisch mit Aschen-
becher, Zigaretten und einem Schälchen Macadamia-
Nüsse, die er fast mehr liebt als seine Frau. Da sitzt er
also und schaukelt sanft vor und zurück. Sein Blick
geht ins Leere. Antonio Marcipane. Gastarbeiter der er-
sten Stunde. Jeans, Lederschuhe, Flanellhemd. Gold-
zähne, dunkelbraune Haare, auf der Brust auch graue.
Antonio, der Vater meiner Frau, Süditaliener und in
letzter Zeit manchmal müde.
Die Schaukel steht hinter seinem Reiheneckhaus aus
rotbraunen Klinkersteinen. Seit über dreißig Jahren
wohnt er darin, verlässt es zwischen Montag und Frei-
tag jeden Morgen um zehn nach sieben mit einer Ak-
tentasche unter dem Arm. Darin befindet sich sein Brot
mit Bauarbeitermarmelade 1 , Milchkaffee, ein Notiz-buch für besondere Vorkommnisse und Lottofor-
1 Rheinischer Arbeiterslang für «Zwiebelmettwurst»
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schung, ein Jerry-Cotton-Heft und seine Lesebrille
nebst Futteral. Am Boden kleben Salmiakpastillen, die
er dort irgendwann in den vergangenen 37 Jahren ver-
gessen hat.
Heute ist er zum letzten Mal zur Arbeit gefahren,
denn heute geht Antonio Marcipane nach 37 Jahren im
Stahlwerk in Rente. 37 Jahre. Das bedeutet über 16 000-
mal Spindtüre auf und wieder zu, einmal am Morgen
und einmal am Abend. Das sind mehr als 8000 Butter-
brote, die ihm Ursula geschmiert hat, Hunderte von
Kollegen, die er kommen und wieder gehen sah. 96 000
Kilometer Fahrtweg zur Arbeit und zurück. Verrückt.
Und was bleibt am Ende? Ein kleiner Mann mit einem
Helm auf dem Kopf, der mit baumelnden Beinen auf
seiner Hollywoodschaukel sitzt, an einem Vorhänge-
schloss herumspielt und darüber nachdenkt, was er
morgen früh mit sich anfangen soll.
Bisher war es ein aufregender Tag. Nach dem Früh-
stück fuhren wir gemeinsam mit ihm in die Firma, wo
es einen kleinen Festakt geben sollte, oben beim Vor-
stand. Die Vorstandsetage von Antonios Stahlwerk ist
ein Ort, den kein Arbeiter jemals zu Gesicht bekommt,
normalerweise jedenfalls. In diesem Fall wurde aber ei-
ne Ausnahme gemacht, und das hat Gründe, von denen
Antonio nichts weiß. Und wenn er sie wüsste, wären
sie ihm egal.
In letzter Zeit hatte das Unternehmen keine beson-
ders gute Presse, man schrieb von Rüstungsgeschäften
mit politisch fragwürdigen Partnern. Der Vorstand ent-
schloss sich daher, die Pressearbeit in die Hände einer
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PR-Agentur zu geben, die nun ständig nach positiven
Themen sucht, um die Öffentlichkeit davon zu über-
zeugen, dass dieses Stahlwerk eigentlich keine Waffen,
sondern Waffeln herstellt. Und überhaupt: Vor allen
Dingen ginge es der Firma in diesen schweren Zeiten
um den Erhalt der Arbeitsplätze, und das sei ein Ziel,
an dem niemand herummeckern könne.
Aber die Reporter schrieben und sendeten davon
nichts, sie standen lieber an den Werkstoren und stell-
ten Schichtarbeitern Fragen wie zum Beispiel diese:
«Sie haben gerade Kriegsgeräte für einen Folterstaat
gebaut. Wie fühlen Sie sich?» (Antwort: «Nix verstehen,
gut Arbeit hier, geh Spielothek jetz’. Tschuss.»)
Es mussten dringend schöne, menschelnde Ge-
schichten her. Die Tatsache, dass da einer aus Halle
zwei in Rente ging, der 37 Jahre da war, wäre in so ei-
ner Situation nichts Besonderes, aber es handelte sich
um einen Ausländer. Da zuckte den PR-Beratern
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