Antonio im Wunderland
dauert
bis 2:11 Uhr. Mein Dokumentarfilm wird später sehr ge-
lobt, obwohl das Bild immer wackelt, wenn Lorella bei
einer Wehe alles gibt und schreit, dass die Nachbarn
denken, sie würde exorziert. Jürgen hockt vor ihr an die
Badewanne gelehnt und atmet laut, was mir zunehmend
auf die Erbse geht. Sara fächelt Luft, Frau Fobbe-Haller
fummelt mit ihrem Stethoskop an Lorella herum, ich
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stehe in der Badewanne und filme, Ursula sitzt im Wohn-
zimmer, und Antonio steckt seinen Kopf zur Tür rein.
«Alle klar? Wollte nur mal nakesehene, ob alle okay
iste.»
«Raus», rufen alle außer Jürgen. Er ist außer Puste.
Dann kommen kurz nacheinander eine ganz fürchter-
liche Wehe, ein noch fürchterlicherer Schrei und ein
kleines Stückchen Kopf. Lorella hört jetzt nicht mehr
auf zu brüllen. Sie schüttelt den Kopf, schwitzt, ächzt,
während ihr Gatte auf sie einschwafelt: «Gleich kommt
es, ist gleich so weit, nur noch ganz kurz. Und atmen,
atmen, ja, schön gleichmäßig, und die Wehe kommt
und die Wehe geht und die Wehe kommt und schön
atmen und schieben, atmen und schieben …»
«Jetzt halt endlich mal dein Maul, verdammt!», brüllt
Lorella, und ich finde, da hat sie völlig Recht. Während
ich noch überlege, ob ich sein Gesicht filmen soll, gibt
es plötzlich ein ganz unnachahmliches Geräusch, und
das Baby rutscht mitsamt seinem Verpackungsmaterial
auf eines der vielen Handtücher, die auf dem Boden
liegen. Man kann es kaum erkennen vor lauter Glibber
und Nabelschnur. Es ist – soweit ich das beurteilen
kann – ein sehr hübsches, bläulich rotes Mädchen mit
einem eingedrückten Kopf und knapp einem Pfund
Plazenta. Diese wird von Jürgen in eine Plastiktüte ge-
füllt. Er will sie bei sich im Garten in ein bereits aus-
gehobenes Loch schütten und darauf einen Apfelbaum
pflanzen. Ich werde garantiert niemals bei meiner
Schwägerin einen Apfelkuchen essen. So viel steht mal
fest.
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Frau Fobbe-Haller wäscht Lorella und das Baby. Mei-
ne Sara sieht glücklich aus, sie ist so warm von innen,
und ihre Augen leuchten ganz klar, als sie mit mir die
Treppe hinuntergeht zu Ursula und Antonio. Der sitzt
im Schlafanzug auf seiner Couch und weint. Ich nehme
ihn in den Arm und beglückwünsche ihn zu seiner En-
kelin. Als er sich wieder gesammelt hat, sagt er: «Wun-
derbare Enkelkinde. Und muss nickte mit dieser be-
kloppter Name rumrenne.» Das ist wahr, aber ich
fürchte, Lorella und Jürgen haben sicher auch ein paar
Mädchennamen auf Lager. Ich umarme auch Ursula,
die sich innerhalb von wenigen Minuten in Oma Ursula
verwandelt hat. Als solche beginnt sie unverzüglich mit
der Produktion von Strickwaren. Es ist ja bald Winter.
Jürgen öffnet die letzte Flasche seiner Sammlung,
den Petrus. Er schenkt ein, und ich stoße mit ihm an.
Womöglich wäre so eine Geburt auch etwas für mich,
es fühlt sich auch für einen Onkel nicht schlecht an.
Wie muss es dann erst für einen Vater sein?
Am nächsten Morgen erwache ich zum ersten Mal in
meinem Leben mit dem Geschrei eines Neugeborenen.
Es klingt schön. So neu, so unerhört klein klingt das.
Sara ist schon auf den Beinen. Ich ziehe mich an und
beginne unsere Sachen zu packen. Wir werden heute
nach Hause fahren.
Plötzlich Unruhe im Haus. Es kommt aber nicht vom
Baby. Es klingt eher wie ein italienischer Großvater in
höchster Erregung. Antonio schreit: «Kommte mal her
hier, alle mitananda!»
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Ich stolpere die Treppe hinunter, wo die anderen
schon versammelt sind, alle außer Lorella, die im Bett
geblieben ist. Antonio hält einen Brief in die Luft.
«Was ist das für ein Brief, Toni?», frage ich.
Er lässt sich Zeit, senkt langsam den Arm und sagt
dann: «Aus Amerika. Von Roberto.»
«Von Robert?», rufe ich.
«Von Robert De Niro?», ruft Ursula.
«Von wegen», ruft Sara.
Antonio überreicht mir den Brief, damit ich ihn öff-
ne und übersetze. Es ist das Logo eines Hotels in Chi-
cago darauf gedruckt. Auf der Rückseite steht hand-
schriftlich als Absender: «RDN»
Ich reiße den Brief auf und entnehme das Papier.
Darauf steht:
«Lieber Antonio, ich wollte nur schnell mitteilen, dass
ich mit Mauro telefoniert habe. Er kann sich noch
sehr gut an dich erinnern. Ich habe ihm deine Adresse
gegeben (ich selbst bekam sie vom Hotel), und er wird
sich bald bei dir melden. Ich habe dich übrigens im
Fernsehen gesehen, wo hattest du nur diese Fahne
her?
Wir sehen uns, dein
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