Antonio im Wunderland
muss
bloß alte Fotos von der Osterprozession in Campobas-
so sehen, damit sich seine Augen mit Tränen und
Heimweh füllen. Er ist ganz hin und her, ganz zerris-
sen von seinen Welten, und manchmal wird ihm das zu
viel. Dann will er alleine sein, oder er stellt etwas an.
Kommt abends erst spät nach Hause, streitet mit frem-
den Menschen, schläft aus Protest beim Abendessen
ein. Mit ihm zu leben ist nicht gerade einfach. Oft frage
ich mich, wie Ursula das aushält. Sie ist eine stille,
freundliche Frau. Nie habe ich sie schreien oder flu-
chen gehört. Befindet sie sich unter Antonios Landsleu-
ten, lacht sie mit und spricht sogar ein bisschen italie-
das Laufen durch Fußgängerzonen am Sonntag, wenn die Ge-
schäfte zuhaben.
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nisch. Wenn sie aber mit Antonio alleine ist, sagt sie
fast nichts, und alles, was sie nicht sagt, sagt sie auf
Deutsch. Sie meckert nicht viel, meistens sieht sie an
die Decke und atmet tief durch.
Sie hätte es einfacher haben können, sich das Gerede
und die Probleme und die hohen Zinsen beim Hausbau
sparen können, wenn sie gemacht hätte, wozu man ihr
riet, als sie mit dem dunkeläugigen Gastarbeiter durch
die Straßen lief: Einen anständigen Deutschen heira-
ten. Hat sie aber nicht. Und als ich sie frage, warum sie
das nicht getan hat, sieht sie zu ihm herüber und
seufzt. Und sagt: «Es war keiner so wie er.»
«So wie?», frage ich, denn ich verstehe nicht, was sie
meint.
«Er war der Einzige, der sich wirklich um mich be-
müht hat. Ich weiß schon, dass er mich damals brauch-
te, für die Aufenthaltsgenehmigung. Und ich weiß
auch, dass er das vorher schon mit anderen probiert
hat. Er war kein Hauptgewinn, und da dachte ich: Toll,
ich bin auch keiner. Wir haben gut zusammengepasst.»
«Das klingt aber traurig», sage ich.
«Das ist nicht traurig. Es war, wie es war. Ich habe es
auch nie bereut, denn immerhin waren wir hier immer
was Besonderes.»
So kann man es auch sehen. Ich setze mich zu Anto-
nio auf die Couch. Er hat sich die Welt so gemacht, wie
er sie braucht. Dreiteilige Sitzgarnitur, Schrankwand
mit Butzenscheiben, kleine italienische Keramikvögel,
die auf einer Anrichte stehen.
Er löst ein Kreuzworträtsel.
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«Was iste große Fluss mit swei Buchstabbe?», fragt
er mich.
«Po. Das musst du doch wissen.»
«Nee, iste nickte richti.»
«Dann Ob», versuche ich es weiter.
«Okee. Danke, meine liebe Jung.»
Er brütet eine Weile, schreibt mit seinem Kugel-
schreiber geschäftig in das Heft, legt es schließlich aus
der Hand und geht in die Küche, um seine Frau zu fra-
gen, was es zu essen gibt. Er ist seit ein paar Tagen
Rentner und hat sich noch nicht so richtig auf den neu-
en Lebensbeat eingestellt. Ich nehme aus Langeweile
das Rätselheft in die Hand und schaue auf Antonios
Schwedenrätsel. Was ist denn das? Keilförmiges Stück
in Kleidungen: ZUTTL. Und hier, dt. Nordseehafen:
PUMPS. Oder hier, Ostgermanenvolk: SELMF.
Er hat das ganze Ding ausgefüllt und überall, wo er
nicht weiterwusste, einfach Phantasiebegriffe erfunden.
Clubjacke: OGRHUS. Kurzer Regenguss: TUMDTUI.
Er kommt zurück, und ich lege das Heft schnell wie-
der auf den Tisch.
«Bin i schlau?», fragt er mich.
«Und wie», antworte ich. «Aber ein Kinoangestellter
mit dreizehn Buchstaben ist ein PLATZANWEISER und
kein SCHNOOREPUSTI.»
«Na unde?»
«Da stimmt doch nichts in deinem Kreuzworträtsel.»
«Ist egal, stimmte nickt, aber ist fertig. Wen interes-
sierte?»
«Aha.»
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Seine pragmatische Art und Weise, sich Aufgaben zu
entledigen, finde ich immer wieder phantastisch. Er
erklärt mir nun, der Rasen müsse dringend gemäht
werden. Er werde dies sofort erledigen, denn hier in der
Siedlung würde es nicht gern gesehen, wenn die Gras-
halme zu lang wüchsen. Ich biete ihm an, dass ich das
übernehmen könnte, denn ich habe das Gefühl, mich
schwiegersohnmäßig nützlich machen zu müssen. Er
lehnt brüsk ab, will mir aber die Maschine zeigen. Also
gehen wir in die Garage, und er holt seinen Rasenmä-
her hervor. Er weist mich abermals darauf hin, dass
diese Arbeit seine Sache sei.
«Muss man der feine precisione Obackt gebe», fügt er hinzu, als handele es sich bei seinem Rasenmäher um
eine Mondlandefähre. Ich gebe mich beeindruckt und
will eben wieder ins Haus gehen, um vielleicht ein klei-
nes Kreuzworträtsel zu lösen. Doch Antonio besteht
darauf, dass ich Zeuge der präzisen Kürzung seines
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