Antonio im Wunderland
der
europäische Gedanke durch den Kopf. Hurra, einer von
diesen alten Gastarbeitern, diesen herrlich schrulligen
Charakterköpfen! Ein Symbol für Frieden und Zusam-
menarbeit unter den Völkern! Was für ein Geschenk!
«Da machen wir doch einen Presse-Event», sagte
Giesecke von der gleichnamigen PR-Agentur und hielt
dann inne. «Das ist aber hoffentlich kein Türke, oder?»
«Nein, ein Italiener», antwortete Polz aus der Perso-
nalabteilung.
Die beiden einigten sich darauf, die Unterlagen noch
einmal durchzusehen und nach einem womöglich noch
geeigneteren Kandidaten zu suchen, denn italienische
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Gastarbeiter waren zwar echt super, aber noch besser
wäre vielleicht ein Pole oder ein Russe, da sei die the-
matische Fallhöhe größer, wie Giesecke bemerkte, oh-
ne dass ihn der Blitz traf. Es gab aber nur einen Rumä-
nen und der war schon im vorigen Herbst in Rente ge-
gangen, genauer gesagt in Frührente. Der Mann sei ein
so genannter Minderleister gewesen, sagte Polz.
«Und dieser Italiener?», fragte Giesecke.
«Marcipane, Antonio. Unauffällig», antwortete Polz
und schlug Antonios angegammelte Akte auf. «War in
der letzten Zeit viel krank und in den vergangenen drei
Jahren neunmal beim Werksarzt. Nichts Besonderes in
dem Alter.»
«Betriebsrat?»
«Ja, von 1974 bis 1981. Aber das war vor meiner Zeit.
Sonst sehe ich hier nichts. Oder doch. 1988 ist er mit
einwöchiger Verspätung aus dem Urlaub gekommen
und hat behauptet, er hätte sich bei der Heimreise um
13 000 Kilometer verfahren.»
«Und das haben Sie ihm geglaubt?»
«Wie gesagt, das war vor meiner Zeit.»
Man bestellte Antonio also in die Personalabteilung
und schlug ihm vor, am Tage seiner Verrentung einen
kleinen Festakt zu begehen, an dem sicher auch Herr
Doktor Köther aus dem Vorstand teilnehmen würde.
Man wisse, sagte der Personalsachbearbeiter Polz und
zwinkerte dabei mit einem Auge, dass Herr Doktor
Köther sich auch schon eine Rede überlege. Antonio
war außer sich. Eine Rede, für ihn allein.
Er rief mich auf dem Handy an, als ich gerade in ei-
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nem Supermarkt stand und herauszufinden versuchte,
was der Unterschied zwischen Brie und Camembert 1 ist.
«Weißte du, was dein alte Schwiegevater is?»
«Mein alter Schwiegervater ist ein imbroglione », rief ich ins Telefon. Ein imbroglione ist ein Gauner, das ist mein Kosewort für ihn.
«Nee, bini gar nickt. Bini der neue Fernsehstar.»
«Was?»
«I kommin Fernsehn», brüllte er. «In die Tageschau
kommi. Die macke ein ganzer Film nur übermi.»
Ich täuschte einen Verbindungsabbruch vor, indem ich
in mein Handy pustete und dann auflegte. Dann wählte
ich seine Nummer. Das mache ich immer so, wenn ich
seine Frau sprechen will. Wenn Ursula mir etwas erklärt,
verstehe ich es einfach besser, denn sie ist Deutsche. Ich kann ganz sicher sein, dass ich sie am Telefon habe,
denn er geht nie selber dran, wenn es klingelt, nicht
einmal, wenn er das Telefon gerade zufällig in der Hand
hat. Ich glaube, das ist irgend so ein Chauvi-Ding.
Sie hob nach dem siebenten Klingeln ab, wahr-
scheinlich war er vorher mit dem Hörer in der Hand
durchs Haus gelaufen und hatte gerufen: «Uuuuuuur-
sulaa! De Teeelefoon!»
1 Nach Auskunft von Frau M., die große Teile ihres Lebens in einem fensterlosen Supermarkt in Wolfratshausen verbringt, ohne dort jemals den bayerischen Ministerpräsidenten beim Einkaufen zu sehen, ist der Unterschied der: Brie sei milder und weicher als Camembert. Auf meinen Hinweis, dass auf dem Camembert stehe, dieser sei «mild und cremig», entgegnete sie: «Genau. Und der Brie ist noch milder und noch cremiger.»
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Ich fragte sie, was das für eine Geschichte sei, und sie
war für ihre Verhältnisse ziemlich außer sich. Genau
verstanden habe sie es auch nicht, aber die Firma wolle
seinetwegen einen Festakt machen. Mit Presse und so.
Dann nahm er ihr den Hörer weg und befahl uns zu
kommen. Ich war viel zu neugierig, um einen Hexen-
schuss oder eine Schwangerschaft vorzutäuschen. Und
wenn es ihm so wichtig ist, na ja, was soll’s.
Also mal wieder zu Antonio und Ursula an den Nie-
derrhein. Inzwischen kenne ich den Weg im Schlaf,
denn wir müssen da dauernd hin. Es passiert zwar ei-
gentlich nichts Wichtiges im Leben von Antonio Marci-
pane. Aber seine Familie – und ich gehöre als Mann sei-
ner Tochter nun einmal dazu – muss trotzdem mög-
lichst zahlreich daran teilnehmen, um nur ja nichts
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