Apocalypsis 1 (DEU)
wer den Schmerz kennt, ist würdig, dem Licht zu dienen.
Während er zusah, wie das Leben zäh und widerwillig aus ihm heraustropfte, um Platz für noch mehr Hass und Schmerz zu schaffen, stellte sich Nikolas das Schicksal als Schollen verkrusteten Lichts vor, kontinentalen Platten gleich, die auf einem Magma aus Licht und Schmerz dahintrieben. Zwei dieser Schicksalsplatten waren gegeneinander geprallt, hatten ein Beben ausgelöst und sämtliche Gewissheiten seines Lebens mit einem Ruck zertrümmerte.
Peter Adam in Montpellier zu verschonen, war Verrat gewesen. Seth hatte ihn umgehend zurück nach Rom zitiert und ihm befohlen, den Tempel bis auf Weiteres nicht zu verlassen. Nikolas hatte die letzten Tage mit Fasten verbracht und damit, sich in den Arm zu schneiden. Nein, er wollte sich nicht töten. Was auch immer seine Aufgabe im Großen Plan sein mochte – er hatte sie noch nicht erfüllt.
Warum hatte er Peter Adam nicht töten können? Eine Stimme hatte ihn gerufen, als er seinem Zwillingsbruder gegenüber gestanden hatte. Die Stimme seiner Mutter.
Reinige dich von allen Leidenschaften, bade dein Fleisch in Licht und Schmerz und tilge die Sehnsucht in dir. Tilge die Stimme deiner Mutter. Tilge das Bild deines Bruders.
Der Temple of Equinox , offiziell eine eingetragene hermetische Loge in der Tradition des Golden Dawn mit einer schlampig gestalteten Webseite im Stil der 90er Jahre und sogar gelegentlichen öffentlichen »Jour fixes«, bildete die Zentrale des Ordens in Rom. Die römische Villa in der Via Vincenzo Monti lag kaum einsehbar hinter einem hohen Zaun und einem subtropischen Garten, vis-à-vis einem Karmeliterinnenkloster. Wie auf der Ile de Cuivre und auf Poveglia gab es ein abhörsicheres, bunkerartig ausgebautes Untergeschoss, einen achteckigen Saal mit dem igillum Dei , sowie Zellen für die ständigen Ordensmitglieder. Hier in Rom und auf Poveglia hatte Nikolas die letzten fünf Jahre verbracht, in engen klosterartigen Zellen ohne jeglichen Komfort.
Nikolas legte die Machete beiseite und verband sorgfältig die klaffende Wunde am Unterarm. Er war gerade fertig, als es klopfte und Seth unaufgefordert eintrat. Nikolas warf sich sofort zu Boden.
»Steh auf«, sagte Seth knapp. »Setz dich, wir müssen reden.«
Gehorsam setzte sich Nikolas auf seine Pritsche und wartete demütig ab, bis Seth ihn ansprach. Seth rückte sich den einzigen Stuhl im Raum zurecht und platzierte sich direkt vor ihn, so dass Nikolas ihm in die Augen schauen konnte. Oder musste.
Seth deutete auf den frischen Verband. »Wie ich sehe, vernachlässigst du deine Übungen nicht.«
Nikolas nickte nur demütig.
»Dein Verrat verdiente Strafe«, fuhr Seth fort. »Im Grunde hätte ich dich töten müssen.«
»Macht mit mir, was ihr wollt, Meister.«
»Aber ich wusste, dass du Peter Adam nicht töten würdest.«
Das verwirrte Nikolas. »Warum habt ihr mich dann geschickt, Meister?«
»In Kellys letzter Offenbarung hat mir das Licht enthüllt, dass dein Bruder Teil des Großen Plans ist, der die Prophezeiung des Malachias erfüllen wird. Peter sollte echtes Zaudern in dir erkennen. Und ich wollte, dass du weißt, was Verzagtheit und Zweifel sind, und dass du lernst, sie zu überwinden. Allerdings gibt es schlechte Nachrichten. Peter Adam ist nicht zu seiner Verabredung mit Creutzfeldt in Köln erschienen. Aber viel schlimmer ist: Wir haben Poveglia verloren. Und damit auch den Schweizer.«
Nikolas starrte seinen Meister an. Die Nachricht war alarmierend. Obwohl Nikolas gelernt hatte, sich an nichts zu binden, weder an Orte, noch Menschen, noch Erinnerungen, war ihm die Laguneninsel so etwas wie eine Heimat geworden.
»Das ist ein Desaster, Meister! Was ist passiert?«
»Laurenz. Er organisiert offenbar den Widerstand.«
»Ich werde ihn töten, Meister.«
»Nein, das erledige ich selbst, sobald Laurenz mich gefunden hat. Er hätte die Warnung von Kampala nicht ignorieren sollen. Wichtig ist im Augenblick nur herauszufinden, wer hinter ihm steht. Ich glaube nicht, dass es einer der Geheimdienste ist.«
»Ihr habt einmal von einem zweiten Orden gesprochen, Meister.«
»Das ist nur eine alte Templerlegende. Das Licht hat einen zweiten Orden nie erwähnt.«
»Was ist mit Menendez?«
»Er hat seinen Auftrag erfüllt und wird es weiter tun. Aber wir dürfen uns keine Schwäche mehr leisten.«
»Meister, glaubt mir, ich …«
»Nein, hör zu, Nikolas. Morgen werde ich beschäftigt sein. Während des Konklaves wirst du
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