Apocalypsis 1 (DEU)
sagen, dass Sie mich nicht mehr mit Eure Heiligkeit ansprechen sollen, Don Luigi!«
Nach einigen Minuten kam Oberst Bühler stöhnend wieder zu sich. Er schien sich nicht einmal zu wundern, als er den zurückgetretenen Papst vor sich sah.
»Wie sind Sie in den Vatikan gekommen?« fragte er bloß.
»Durch den Passetto «, erklärte Laurenz, als sei das selbstverständlich. »Aber ich kann nicht lange bleiben. Ich muss mit Ihnen reden, Oberst.«
Bühler wandte sich ab. »Töten Sie mich, Heiliger Vater. Dann muss Leonie vielleicht nicht mehr leiden.«
»Reden Sie keinen Schwachsinn, Oberst Bühler!«, fuhr Laurenz ihn an. »Sehen Sie mich an! Ich will Ihnen etwas zeigen.«
Don Luigi reichte Laurenz einen Laptop, auf dem das Video eines Überwachungssatelliten zu sehen war. Bühler erkannte die Insel Poveglia. Er sah ein Vaporetto an der Insel anlegen. Ein Mann stieg aus und ging an Land. Dieser Mann war er.
»Wir wussten zunächst nicht, wo Leonie gefangen gehalten wurde«, erklärte Laurenz. »Wir wussten nur, dass sie entführt worden war. Es war nur logisch, dass man Sie damit unter Druck setzen würde, also haben wir Sie observiert, Oberst.«
»Wer sind die?«, ächzte Bühler, während er sich selbst auf der Insel beobachtete.
»Alles zu seiner Zeit, Oberst. Ich will Ihnen jetzt etwas anderes zeigen.«
Laurenz klickte das Video weg und schaltete um auf eine andere Aufnahme, die erneut die Laguneninsel aus der Vogelperspektive zeigte. »Das ist jetzt eine Echtzeitaufnahme. Schauen Sie genau hin.«
Bühler starrte auf das Monitorbild. Kein Ton zu hören, alles lief völlig lautlos ab, gespenstisch lautlos. Bühler sah, wie zwei Schnellboote in dem Canaletto anlegten, der Poveglia in zwei Hälften teilte. Zehn bewaffnete Männer in militärischer Ausrüstung sprangen an Land und drangen in das Gebäude des Tempels ein, den Bühler entdeckt hatte. Alles unter bedrückender Lautlosigkeit. Ein Stummfilm. Doch Urs Bühler wusste, dass dies nur eine trügerische Illusion war. Er wusste, dass es dort auf Poveglia gerade um Leben und Tod ging. Um das Leben seiner kleinen Schwester. Er stöhnte. Wenig später drang plötzlich Rauch wie von einer heftigen Explosion aus dem Gebäude. Drei andere Gestalten flohen aus dem okkultistischen Tempel und wurden von Männern des gelandeten Kommandotrupps erschossen. Kurz darauf trugen zwei Männer des Kommandotrupps eine kleine Gestalt aus dem Gebäude.
»Leonie!«, wimmerte Bühler entsetzt.
Laurenz zoomte das Bild näher auf die kleine Gestalt. Nun erkannte Bühler, dass sie sich bewegte. Der Mann, der sie trug, setzte sie vorsichtig auf dem Boden ab und deutete nach oben in den Himmel. Und dann – dann sah Urs Bühler, Kommandant der Schweizergarde, wie seine kleine Schwester Leonie zu ihm hinauf blickte und ihm zuwinkte.
Laurenz klickte das Bild weg und sah den Oberst an, der nun hemmungslos weinte.
»Diese Leute werden Leonie an einen sicheren Ort bringen, Oberst. Sie werden sie schon bald wiedersehen.«
Bühler riss sich zusammen und sah Laurenz an. Plötzlich wieder misstrauisch und feindselig.
»Sie meinen, jetzt haben Sie sie in Ihrer Gewalt und können von mir verlangen, was Sie wollen.«
»Nein, Oberst«, erklärte Laurenz ruhig. »Ich erpresse Sie nicht. Wenn Sie wollen, können Sie morgen schon mit einer neuen Identität mit Leonie zusammen sein und können all das hier vergessen.«
»Was wollen Sie dann?«
Laurenz atmete aus. »Ich habe Sie immer als guten Christ und hervorragenden Soldat geschätzt. Ich frage Sie nur, ob ich weiterhin auf Sie zählen kann. Ob Sie bereit sind, die Leute zurückzuschlagen, die Leonie das angetan haben. Ob Sie bereit sind, die Katholische Kirche zu retten. Ich bin nicht mehr Ihr Papst, Oberst Bühler. Ich kann Ihnen weder Befehle erteilen, noch kann ich Ihnen mehr anbieten als Leonies Sicherheit. Möglicherweise werden Sie und ich und Don Luigi diesen Kampf nicht überleben. Ich frage Sie trotzdem, Oberst, denn ich habe nicht mehr viele Leute im Vatikan, denen ich noch vertraue.«
Bühler sah dem Mann vor sich fest in die Augen und verstand, dass dieser Mann, der noch bis vor wenigen Wochen sein Papst gewesen war, bereit war, einen Krieg zu führen. Er sah, dass dieser Mann keine Angst mehr kannte. Dass dieser Mann gefährlich war. Gefährlich und überzeugend.
»Sagen Sie mir, was Sie von mir erwarten, Eure Exzellenz.«
LXXII
17. Mai 2011, Flughafen Frankfurt
D ie ganze Fahrt über dachte er an seine Eltern, an
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