Apocalyptica
Gesichter der Heerführer auf ihren versprengten Flugplattformen. Soweit sie etwas erkennen konnte, las sie dort Angst, Resignation und ein aufkeimendes drittes Gefühl – Gleichgültigkeit. Keiner der Frauen und Männer der Heeresleitung glaubte noch daran, dass es eine Schlacht zu gewinnen gäbe. Sie benötigten ein Wunder, um das Ruder herumzureißen.
Ein letztes Mal fiel der Blick der Samaelitin auf ihre Geschwister, die am Sammelpunkt hoch oben in der Luft auf neue Befehle warteten. Dann fasste Myriel einen einsamen Entschluss.
Midael wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er nach der erschöpfenden Operation zum ersten Mal zu sich gekommen war. Seine Tage und Nächte bestanden nur aus Schlaf und ermüdenden Bädern in Substanzen, die übel rochen und seine Haut reizten. Er fühlte sich krank und ausgelaugt. Die Schwingen auf seinem Rücken schmerzten, und das war leider das einzige Gefühl, das er mit ihnen in Verbindung bringen konnte. Sie reagierten nicht auf seine Befehle und waren nicht Teil seines Körpers, wie es seine ersten Flügel gewesen waren. Ihm war klar, dass er kein besonders angenehmer Zeitgenosse sein musste. In den vergangenen Tagen war er immer griesgrämiger und jähzorniger geworden. Entweder setzte ihm das fehlende Gefühl von Zeit und Raum zu, oder sein Genesungszustand, der sich seit geraumer Zeit nicht verbessert hatte.
So war er auch nicht erbaut, als die Tür seiner Cella in den Kellern der Arx sich öffnete und Haakon von Melhus im Türrahmen auftauchte. Der Blick des Raguelis-Abs war seltsam versteinert, und wenn Midaels Gefühle und Empfindungen ihm keinen Streich spielten, dann schwang Besorgnis in seiner Stimme mit, als er ihm verkündete, er habe hohen Besuch. Trotz aller Versuche des Samaeliten, dem alten Mann das Geheimnis zu entlocken, um wen es sich handelte, blieb dieser standhaft. So kleidete der Samaelit sich zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder in seinen karmesinroten Kriegsrock. Sein Haar, das seine klassische kurze Schnittform bereits Wochen zuvor verloren hatte, bändigte er mit einem Kopftuch in derselben Farbe. Ehe er die Cella verließ, fiel sein Blick auf seine Samaelis-Sichel, und er entschied, die Waffe zurückzulassen. Haakon hatte nichts davon gesagt, dass er sich würde verteidigen müssen.
Beim Betreten des Versammlungsraumes unweit seiner Cella war Midael die Überraschung deutlich anzusehen. Der Raum war groß und fasste, wenn es darauf ankam, sicher einige hundert Menschen, doch die Präsenz der Frau schien es locker mit der Dimension des Raums aufnehmen zu können. Em Susat war alt, älter, als Midael es sich vorgestellt hatte. Dennoch wirkte sie unverwüstlich und stark in ihrer schwarzen Kluft, die ihre tadellose Figur trefflich in Szene setzte. Aus ihren Augen sprühten der Wille zu herrschen und die Zuversicht, ihrem Anspruch stets gerecht zu werden. Sie war das Oberhaupt der Gabrieliten, Herrscherin über Gabrielsland und die Metropole Nürnberg. Ihr Wort war wie Donnerhall, und sie hatte der Ewigen Stadt getrotzt, als man ihr den Befehl erteilte, die Neugeborenen ihrer Schützlinge zu töten. Schon allein deshalb hegte Midael Sympathien für sie. Dennoch, im Kopf des Samaeliten war die bohrende Frage, warum sie gekommen war. Wenn es nach dem Willen Kardinal zu Gemmingens ging, war er ein Hochverräter und zum Tode verurteilt. Laut offiziellem Dekret weilte er nicht einmal mehr unter den Lebenden. Niemand außer Haakon und einer Reihe ausgesuchter Beginen und Monachen wussten, dass er sich in der Arx versteckt hielt und lebte.
„Ich sehe viele Fragen in deinem Blick, hochehrwürdiger Ab“, hallte die Stimme der Em durch den Saal.
„Verzeih.“ Midael wägte seine nächsten Worte sorgsam ab, bevor er weitersprach. „Verzeih mein Erstaunen und meine Unhöflichkeit, hochehrwürdige Em. Wir hatten noch nicht das Vergnügen, einander persönlich kennenzulernen, und nun scheint es mir sonderbar …“
„Was, Midael? Dass ich hier und heute vor dir stehe? Dass Haakon von Melhus mich eingelassen hat, obwohl seit Jahrzehnten niemand mehr diesen Ort betreten durfte, es sei denn, er war ein Vertrauter der Ragueliten? Oder weil du ein gesuchter Verbrecher und Staatsfeind bist?“
Der Samaelit schluckte. Er wusste nun, warum der Em dieser Ruf vorauseilte. Selten hatte er so eine Ausstrahlung bei einem Menschen erlebt. „Ja“, antwortete er daher knapp.
Das sparsame Lächeln, das sich auf die Lippen der Em stahl, wirkte fast fehl am
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