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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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die wichtigste Ortschaft der Kabylei, nach Tizi Ouzou, fahren würde. Etwas zögerlich stimmt er zu, denn es ist bekannt, daß die dort lebenden Berber in instinktiver Ablehnung der arabisierten Behörden verharren und den Respekt vor ihrer eigenen Kultur fordern. Am Vorabend hatte ich einen seit langem bekannten Universitätsprofessor aufgesucht, der der offiziellen Kabylen-Partei »Front der sozialistischen Kräfte« angehört. Er beklagte die Abwesenheit ihres historischen Führers Ait Ahmed, der im Aufstand gegen die französische Fremdherrschaft von der ersten Stunde an eine entscheidende Rolle spielte und jetzt in Marokko Asyl gesucht hat.
    Bei aller Frontstellung gegen die ehemaligen Kolonisten sind die Berber Algeriens durch die lange französische Präsenz nachhaltig geprägt.Den strengen Islamisten sind diese Nachkommen der Numidier, überhaupt alle Kabylen, die angeblich in prä-islamischen Bräuchen verharren, zutiefst suspekt. Auch bei den Kader-Politikern der Nationalen Befreiungsfront und der ihr eng verwandten Nationalen Befreiungsarmee begegnet man den Berbern mit Mißtrauen. Die Offiziere, die in Algier den Ton angeben, betrachten die Weigerung der meisten Kabylen, sich total arabisieren zu lassen, und ihre Forderung, die angestammte Sprache »Tamazight« zu erhalten, fast als einen Akt nationalen Verrats. Der Professor antwortete auf diese Verdächtigung mit deutlichen Worten. Die einzige fleißig arbeitende Schicht in Algerien seien doch die Berber. Die Araber seien von Natur aus faul, und man könne sie nur mit dem Knüppel regieren.
    Schon im weiten Umkreis von Tizi Ouzou ist die Spannung zu spüren, die hier seit der Niederschlagung der Partisanenbewegung GIA nie nachgelassen hat. Im Marktviertel vermisse ich auf den Reklame- und Straßenschildern die seltsamen Zeichen der Kabylenschrift, die man dort einst zugelassen hatte und nun durch die arabische Schrift ersetzt. Fast an jeder Straßenkreuzung hat die Darak, die Gendarmerie, ihre blau angestrichenen Straßenpanzer stationiert, und die Armee baut befestigte Stellungen aus. Als ich Raschid auffordere, in das nahe Djurdjura-Gebirge zu fahren, dessen Felskrone sich am Horizont abhebt, lehnt er ab und drängt zum Aufbruch nach Algier. Jeder Versuch, von der Autobahn abzuzweigen, die Tizi Ouzou mit der relativ nahen Hauptstadt verbindet, scheitert an der höflichen, aber energischen Weigerung irgendwelcher Sicherheitsorgane. Am folgenden Tag erfahre ich aus der Zeitung El Watan , daß kurz nach meinem Besuch sowohl in Tipasa als auch in Tizi Ouzou Sprengsätze der islamistischen Rebellen hochgegangen sind. Die Anschläge gelten den Soldaten und Polizisten des ­Regimes, aber die meisten Opfer hat die Zivilbevölkerung zu be­klagen.
    *
    Ineinem so verkapselten Land bin ich überrascht, daß die Berichterstattung der Presse eine relative Ausdrucksfreiheit genießt. Der Blätterwald ist beachtlich. So berichtet die Zeitung Liberté in großer Aufmachung auf der ersten Seite über einen terroristischen ­Anschlag, der bei Jijel acht Soldaten das Leben gekostet hat. Ac­tualité beschwert sich über die amtliche Energieverschwendung der Behörden. El Watan tadelt das Vorgehen der Polizei gegen illegale Straßenhändler in Tizi Ouzou. Das gleiche Blatt erhebt ­Anklage gegen die Veruntreuungen und die schamlose Spekulation, die den Neubau von Wohnblocks belasten. Besondere Aufmerksamkeit wird den zunehmenden Streikbewegungen gewidmet, die neuerdings auf die Ärzte und die Veterinäre übergegriffen haben.
    L’Expression spricht von einer Heiligen Allianz der konser­va­tiven Monarchien, die, gestützt auf Saudi-Arabien, die Emire der Golfstaaten und Qatars sowie den König von Bahrein und auch die ­marokkanische Dynastie in ihre reaktionäre Abwehrfront gegen ­Reformen und Revolution integrieren möchte. Während El Mujahid , das inoffizielle Regierungsorgan für die Versöhnungsbemühungen des Präsidenten Bouteflika und eine angebliche Steigerung der industriellen Produktion im vergangenen Jahr lobende Worte findet, schreckt die Zeitung L’Actualité nicht davor zurück, mit ­folgender Schlagzeile aufzumachen: »Die Regierung in Atemnot – Straßenunruhen, Mangel an Waren, maßlose Steigerung der Preise und der Spekulation.« In einem Kasten wird hinzugefügt: »Die

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